Corona-Krise im Betrieb

Pauls Post 10 am 7. Mai 21

Empirische Erfahrungen aus Industrie und Dienstleistungen

eine Studie von Richard Detje und Dieter Sauer, VSA-Verlag .

Dass unsichere, anstrengende und gering entlohnte Arbeit, vornehmlich von Frauen in Alten-und Pflegeheimen, in Handelsketten und hier vor allem in Supermärkten verrichtet wird, ist im Zuge der Corona-Krise stärker ins allgemeine Bewusstsein gedrungen, ohne dass der Schleier über weite Bereiche der Arbeitswelt gelüftet worden ist. Hier füllt die Studie zur Corona-Krise im Betrieb eine Lücke.

 

Betriebs- und Personalräte kommen selbst zu Wort

Dort, wo die lebens- und wirtschaftsrelevanten Arbeiten stattfinden, befragten die Autoren zwischen April und Juli letzten Jahres Gewerkschaftsekretäre, Betriebs- und Personalräte,  die in ausgiebigen Zitaten selbst zu Wort kommen. Im Vordergrund der Corona-Studie stehen Beschäftigungssicherung und Gesundheitsschutz, die Aufwertung systemrelevanter Arbeit in prekären Bereichen und der Durchbruch mobiler Arbeitsformen sowie ihre Auswirkungen auf Betriebsräte und Gewerkschaften. Am Ende geben die Autoren hilfreiche Anregungen für die weitere gewerkschaftliche Arbeit und politische Diskussion.

 

Corona-Pandemie verstärkt Krisenerscheinungen

Einleitend resümieren die Autoren, dass die Pandemie den Blick für die Arbeit als Quelle des gesellschaftlichen Reichtums, wie auch für unser aller Existenz geschärft hat; ganz und gar im Unterschied zu den maßgeblichen Akteuren in der Finanzmarktkrise 2007-09. So sehr der wirtschaftliche Einbruch in den epidemischen Wellen zum Tragen kam, so verstärkten diese die sich bereits abzeichnenden Krisenerscheinungen, etwa Überkapazitäten in der Metall-, Elektro- und Automobilindustrie. Während die breit gefächerten Dienstleistungen teilweise starke Verluste verzeichnen, gibt es hier auch einige Krisengewinner:  Lebensmittelkonzerne, größere Logistikdienstleister und Internetanbieter. So werden die sozialen und wirtschaftlichen Spaltungsprozesse weiter vorangetrieben.

 

Grenzen eines kostenlosen Naturverbrauchs

Zugleich zeigen die Umwelt- und Klimaprobleme die Grenzen eines vermeintlich kostenlosen Naturverbrauchs auf. Die Ausbeutung von Bodenschätzen und Ressourcen aller Art, der Natur insgesamt erfolgt nach den ursprünglichen Landnahmen in der Frühindustrialisierung nunmehr in beschleunigten Formen. Dies macht öffentliche Interventionen zu einer planetarischen Überlebensbedingung. So werden durch die Ausbeutung, Zerstörung und Einschränkung der Ökosysteme auch vom Tier auf den Menschen überspringende Infektionen (Zoonosen) wie Covid 19 befördert. Immer mehr stehen die Aufrechterhaltung der unmittelbar materiellen und individuellen Grundlagen des Lebens, der Gesundheits-, Sozial- und Bildungssysteme auf der Tagesordnung.

 

Negative Kreisläufe von Arbeits- und Lebensbedingungen

Betriebliche Arbeit und privates Leben als zwei scheinbar geschiedene Welten erfahren verstärkt einen organischen Zusammenhang – schon in der allgegenwärtigen Bedrohung durch die Viren SARS-CoV-2. Sie breiten sich zwar bevorzugt in Alten- und Pflegeheimen sowie den Pflege- und Gesundheitsdiensten aus, aber auch durch Kontakte in Betriebs- und Wohn-, Vergnügungs- und Sportstätten, Flüchtlings- und Arbeitsunterkünften. Ein herausragender Infektionsherd stellte die Fleischindustrie mit vorwiegend aus Südosteuropa angeworbenen Arbeiter*innen dar – mit den längst bekannten inhumanen Arbeits- und Wohnbedingungen sowie einem unzureichenden Arbeits- und Gesundheitsschutz.  Darüber hinaus ergeben Betriebsbefragungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) einen schon seit den 1970er Jahren bekannten Sachverhalt, der bei Entstehung des Humanisierungsprogramms Pate stand: vorwiegend kostensparende verhaltenspräventive Maßnahmen gegenüber aufwendigen technisch-organisatorischen Innovationen.

 

Umkämpfter Arbeits- und Infektionsschutz

Letztere werden auch heute seltener von den Geschäftsleitungen ergriffen, die vor allem für die Einhaltung der AHA-Regeln und dem gesetzlich geforderten Mindestniveau Sorge tragen. Gegenüber den Betriebsärzten und Sicherheitsfachkräften fällt die Einbindung von Vertretungen der Arbeitnehmer recht spärlich aus. Letztere spielen insbesondere bei Klein- und Mittelunternehmen eine zu vernachlässigende Rolle. Aber auch bei größeren Betrieben bleibt das Nadelöhr für den Gesundheits- und auch den Infektionsschutz die vorrangige Wirtschaftlichkeit, in deren Interesse eine möglichst lange Aufrechterhaltung der Produktion erfolgt. In den Bereichen Postdienste, Spedition und Logistik musste selbst um nur geringfügig kostenverursachende Desinfektionsmittel, Masken oder Handschuhe wochenlang gerungen werden. Noch stärker zugespitzte Problemlagen treten vor allem im Gesundheitssystem und hier in den Kliniken auf, wo das medizinische Personal erheblichen Risiken ausgesetzt ist. Diese haben sich mit der Privatisierung zahlreicher Krankenhäuser erhöht, mit der kostensparende Effekte an allen Ecken und Enden zum Tragen kommen.

 

Problemlagen in der Beschäftigungssicherung

Die Autoren zeigen im deutschen Erfolgsmodell der Kurzarbeit seit der Finanzmarktkrise als einer „sozialstaatlich finanzierten Arbeitszeitverkürzung“ zugleich einige Problemlagen auf: unzureichende oder fehlende tarifvertragliche Regelungen; eine zu geringe Quote der Aufstockungen des gesetzlichen Kurzarbeitergeldes bei niedrigen Versicherungsleistungen; die finanziellen Einbußen von Kurzarbeitenden gegenüber den ins Home-Office verlagerten  Angestellten, was neue Konflikte mit sich bringt. Zugeschnitten auf industrielle Stammbelegschaften, geraten gering entlohnte und die zuerst entlassenen Leiharbeiter, Minijobber und überhaupt prekär Beschäftigte mit geringer gewerkschaftlicher Organisationsmacht in eine Armutsfalle. Dies trifft in besonderem Maße untertariflich bezahlte Migrant*innen und Frauen in Teilzeit.

 

Widersprüchliche Interessen bei mobiler Arbeit

Kurzarbeit und mobile Arbeit zuhause können als entscheidende Bewältigungsformen der Corona-Krise bewertet werden. Letztere dürften, aus der Not des Infektionsschutzes bei der Schließung von Arbeitsstätten geboren, zum Standard in einem neuen Digitalisierungsschub werden – mit der Folge einer zeitlichen Ausdehnung von Arbeit und ihrer intensivierten Verausgabung. Insofern stellen betriebliche Flexibilitätsinteressen für die Beschäftigten häufig ein zweischneidiges Schwert dar. Geringere Gefährdungen im Home-Office durch Ansteckungen können vermehrten Stress unter häuslichen Bedingungen einschließen. Dies bei beschränktem Wohnraum, wenn gleichzeitig familiäre Verpflichtungen beim Lock-down von Kitas und Schulen, überhaupt Care-Arbeiten in unterschiedlichen Ausprägungen übernommen werden müssen. Entsprechend wollen nach einer Befragung in der EU die meisten Beschäftigten nicht auf eine Präsenz am Arbeitsplatz mit kollegialem Austausch verzichten. So stehen Betriebsräte und Gewerkschaften vor dem Problem, widersprüchliche Interessenlagen der Beschäftigten zum Ausgleich zu bringen: betriebliche Anforderungen und private Lebensbedürfnisse, betriebliche Solidarität und gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten. Letztere müssen selbst in steigendem Maße die Erfordernisse digitaler Kommunikation bewältigen, auch für die zwischen- und überbetriebliche Mobilisierung nutzen lernen.

 

Der Begriff der Systemrelevanz auf die Füße gestellt

Der Begriff der Systemrelevanz erfährt eine neue materielle Fundierung, wie die Autoren im Einzelnen ausführen: Nicht wuchernde Geld- und Kreditsektoren als flüchtige Treibstoffe der Kapitalakkumulation stehen im Zentrum staatlicher Maßnahmen wie in der Finanzkrise, sondern Schutz und Sicherung der individuellen und gesellschaftlichen Reproduktion: Krankenhäuser, Arztpraxen und Lebensmittelhandel statt Banken, Börsen und Versicherungen; statt der Förderung von Marktkräften mit verstärkter Konkurrenz und Profitmaximierung nunmehr individuelle Hilfsangebote, gesellschaftliche Solidarität und soziale Leistungen. In den Lockdowns werden infrastrukturelle Bereiche wie Transport und Verkehr aufrechterhalten, aber Gastronomie, Hotellerie und Reisebranche, auch Kultur-, Bildungs- und Sportbereiche als potenzielle Infektionsherde geschlossen. Dagegen werden Industriebetriebe nur bei stärkeren Infektionsgefährdungen heruntergefahren.

 

Erweiterte Wertschätzung der Arbeiten in der Daseinsvorsorge

Als „systemrelevant“ gelten nunmehr vor allem Arbeiten in der Daseinsvorsorge. Sie betreffen einerseits fachliche Tätigkeiten mit einer qualifizierten Berufsausbildung in hoheitlichen Sicherheits-, Bildungs- und Gesundheitsbereichen, andererseits auch prekäre Beschäftigungen in Einzelhandel, Transport und Pflege mit hohem Frauenanteil und geringer Bezahlung. Letztere erfahren bisher trotz hoher Belastung eine unterdurchschnittliche Wertschätzung. Die Autoren gehen genauer auf die kurzzeitig als Held*innen der Arbeit gefeierten Arbeitenden im Krankenhaus, in der Paketzustellung und im Lebensmittelhandel ein. Nach  ihnen enthüllt die Corona-Krise, wie sehr die Daseinsvorsorge als Voraussetzung gesellschaftlichen Lebens zugleich auf die Notwendigkeit sozial-ökologischer Transformation verweist.

 

Betriebsrats- und Gewerkschaftsapparate in der Corona-Falle

Die Organisationen der Beschäftigten geraten selbst in den Sog der Krise als „Stunde der Exekutive“. Entsprechend legalisiert das Infektionsschutzgesetz jenseits der Grundrechte die stärksten Freiheitsbeschränkungen seit Bestehen der Republik. Betriebsräte sprechen von einem „Mitbestimmungsvakuum“ etwa bei Änderungen der Arbeitszeiten, der Arbeitsorganisation und des Arbeitsplatzes. So kam es in kleineren Betrieben mit schwacher gewerkschaftlicher Organisation relativ schnell zu Entlassungen, von denen Leih- und Zeitarbeitskräfte besonders betroffen waren. Es dauerte in einigen Betrieben zuweilen Wochen, bis Betriebsräte sich mit ihren Belegschaften aus dem autoritären Durchgriff von Arbeitgebern befreiten. In der öffentlichen Diskussion spielen die betrieblichen Demokratieverluste jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Erst im weiteren Verlauf der Pandemie begannen gut „funktionierende“ Belegschaften und Betriebsräte die Missachtungen ihrer verbrieften Rechte zu hinterfragen. Hierdurch könnten, so mutmaßen die Autoren, auch Antriebe für ein neues Selbstbewusstsein und demokratische Impulse ausgelöst werden.

 

Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten der Kapitalseite

Allerdings lassen Detje und Sauer keinen Zweifel daran, dass für die Kapitalseite die „Krise als Geschäftsmodell mit dem Staat als Gläubiger in letzter Instanz“ genutzt wird. Unter Corona als „Überschrift“, wie ein Betriebsrat sagt, laufen bereits jene personalsparenden Restrukturierungsprozesse, mit denen die Kräfteverhältnisse auf allen Ebenen verändert werden. Gehorteten und nachgefragten Fachkräften in IT, Software, Elektronik, FuE und Technik oder im Logistik- und Transportgewerbe stehen Krisenverlierer in der automobilen Zulieferindustrie, der Gastronomie und der Tourismusbranche gegenüber, von darbenden Kulturbereichen, hier den vielen befristet angestellten oder scheinselbständig arbeitenden Kulturschaffenden ganz zu schweigen. Und für die nicht ausgemusterten Arbeitskräfte vermehren sich die Leistungsabforderungen nach beiden Seiten: in ihrer Intensivierung bei zeitlicher Ausdehnung. So resümieren befragte Beschäftigte, dass sich Unsicherheit, Druck und Stress mit Umstrukturierungen in Permanenz verallgemeinert haben: „Krise ist immer“. Angesichts einer gesunkenen Organisationsmacht droht den Gewerkschaften in der Defensive festzustecken.

 

Die strategische Aufgabe, verborgene Demokratisierungspotenziale zu heben

Angesichts dieser Problemlage plädieren Detje und Sauer für eine Stärkung individueller Beteiligungsrechte in einer erweiterten institutionellen Mitbestimmung. Diese können an der wachsenden Autonomie der Beschäftigten in ihren Arbeitsprozessen anknüpfen, die mit flexiblen Formen der Unternehmenssteuerung erforderlich werden. Denn in der zunehmend wissensvermittelten Entfaltung der Produktivkräfte stecken jene verborgenen, mit „eigensinniger Widerstandsfähigkeit“ gefüllten Demokratisierungspotenziale, die es zu heben gilt. Hierbei entsteht die von den Autoren angesprochene strategische Aufgabe, aus den krisenbedingten Erfahrungen der Systemrelevanz gerade nicht sonderlich geschätzter Arbeiten gleichwohl den hohen Gebrauchswert von Arbeit gegenüber einer primär finanzgetriebenen Kapitalverwertung im Aktionärsinteresse in Anschlag zu bringen. Allerdings scheint der systemtransformierende Weg von der autonomen Selbstbestimmung in Arbeitsprozessen hin zur Mitbestimmung über die hergestellten Produkte noch nicht wieder thematisch zu werden. Der Sprung vom „Wie der Arbeit zum Was der Produktion“ könnte als ein spezifischer betrieblicher und gewerkschaftlicher Input für die anstehenden sozial-ökologischen Transformationsprozesse fungieren. In diesem Zusammenhang beginnen sich einige aktive Gewerkschafter zu erinnern, dass diese Zielsetzungen bereits in den 1970er und 1980er Jahren in betrieblichen und gewerkschaftlichen Konversionsstrategien aufkeimten und schon davor in den programmatischen Diskussionen der späten 1940er Jahre eine gewichtige Rolle spielten.  Entsprechend können die sich neu eröffnenden und erweiterten strategischen Zielsetzungen auf einen versunkenen Traditionsbestand zurückgreifen.

Paul  am 07. 05.2021

Paul Oehlke ist Sozialwissenschaftler. Er gehört der Kölner LINKEN sowie dem Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW an.

–  Namentliche gezeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Kölner LINKEN oder der Redaktion wieder. –

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