Wie viel Kapitalismuskrise steckt in der „Coronakrise“?

Wie viel Kapitalismuskrise steckt in der „Coronakrise“?

Krise und Kapitalismus

Die jüngere politische und mediale Geschichte wird von Krisen geprägt. Von der Wirtschaftskrise 2008, über die Eurokrise, Migrationskrise, Klimakrise, bis zur aktuellen „Coronakrise“, um nur die prominentesten Beispiele zu nennen. Ein tieferer Blick auf alle diese Krisen offenbart, dass alles Aspekte einer Krise unseres derzeit dominierenden globalen Wirtschaftssystem, des Kapitalismus, sind. Der vorliegende Text soll sich auf den Zusammenhang der Umstände, die wir unter dem Sammelbegriff „Coronakrise“ einordnen, zu der damit einhergehenden Wirtschaftskrise analysieren.

Die „Coronakrise“ wurde durch die pandemische Ausbreitung eines Virus ausgelöst. Obwohl man die Umstände zur Ausbreitung einer solchen Virusinfektion sicherlich durch die Arbeitsbedingungen kapitalistischen Wirtschaftens befördert hat, bleibt es festzustellen: Diese Art von Pandemie wäre in jeder Art einer vernetzten Gesellschaftsform, die eine bestimmte Größe, und damit Dichte, erreicht hat, möglich. Wie steht es aber mit den Auswirkungen auf besagte Gesellschaftsform mit kapitalistischer Wirtschaftsweise aus?

Um diesen Zusammenhang anschaulicher zu erörtern, erst einmal zur Frage: Wie funktioniert der Kapitalismus? Dieser Frage wurden gewiss schon Bücherreihen und Lebenswerke gewidmet. Die hier relevante Essenz dessen, in sehr kurzer Form zusammengefasst, könnte so lauten: Geld wird in die Produktion von Waren investiert. Die Waren, die durch diese Investition produziert wurden, werden zu einem Erlös verkauft, der höher ist, als die ursprüngliche Investition. Das Geld, welches zum Zwecke der Vermehrung in den „Wirtschaftskreislauf“ gesteckt wird, bezeichnet man als Kapital. Da sich Kapital aber nicht von alleine vermehrt, muss durch die Investitionen auch Arbeitskraft bezahlt werden, um die Produktion umzusetzen (hierzu gehört sowohl die direkte Arbeit in der Produktion, wie auch indirekte Arbeit, wie die Konstruktion der Maschinen, Dienstleistungen usw.). Mit diesem Lohn, der den Arbeiter:innen für ihre Arbeitskraft bezahlt wird, werden wiederum Waren konsumiert. Solange sich dieser – flapsig ausgedrückt – „Kreislauf“ aufrechterhält, entsteht Wachstum und der Kapitalismus funktioniert (was keineswegs bedeutet, dass es allen Akteur:innen auch gut geht). Was passiert aber, wenn er an einer Stelle durchbrochen wird?

Die Auswirkungen einer Pandemie

Die Ausbreitung des Coronavirus stört diesen Kreislauf gleich an mehreren Stellen. Zum einen wurde durch die Schließung von Geschäften und der Gastronomie die Möglichkeit zum Konsum eingeschränkt. Dies wirkt sich wiederum auf die Beschäftigten aus, die durch den Wegfall der Einnahmen auch den Wegfall ihrer Gehälter befürchten, welche so wiederum nicht für den Konsum aufgewandt werden können. Diese unsichere Perspektive auf zukünftige Löhne führte jedoch auch nach der Wiedereröffnung des Großteils der Konsumeinrichtungen zu sich nur schleppend erholenden Einnahmen.

Auch auf der Produktionsseite wurde die Arbeit Wie viel Kapitalismuskrise steckt in der „Coronakrise“?insbesondere in Arbeitsstätten mit engem physischen Kontakt der Arbeiter:innen stark eingeschränkt. Die Stagnation in der Produktion führt zu geringeren Absatzzahlen der Unternehmen. Dies gilt sowohl für Konsumwaren (Autos, Kleidung, Möbel, …) wie auch für Investitionswahren wie Maschinen, dessen Produktion ganz besonders in Deutschland einen großen Teil der Wirtschaft ausmacht. Die Auswirkungen reichen aber weiter. Beispielsweise nahmen viele Unternehmen der Produktion von Konsumgütern ihre Ausgaben für Werbung zurück (es kauft ja zurzeit eh niemand etwas), was sich dann wiederum auf die Einnahmen von Zeitungen und Werbeagenturen auswirkte.

All diese Effekte wälzen sich in erster Linie auf den Leben derjenigen ab, die in diesem System eine Rolle als Arbeiter:innen und Konsument:innen einnehmen.

Wie reagiert die Politik?

Wie viel Kapitalismuskrise steckt in der „Coronakrise“?Die politischen Reaktionen sind allesamt ganz im Sinne des Systems, welches sie zu stützen versuchen. Das heißt, dass der beschriebene Kreislauf der Wirtschaft dort, wo er durch die Auswirkungen der Pandemie gestört wird, künstlich am Leben gehalten werden soll. Einnahmenausfälle sollen teils durch Kredite und teils durch Zuwendungen kompensiert werden, um laufende Kosten zu decken. Die anfallenden Verluste von Beschäftigung sollen durch Kurzarbeit kompensiert werden.

Trotz großer Beträge, die in die Stützung des Systems fließen, zeigt sich auch hier, dass bei bestimmten Gruppen weniger ankommt als bei anderen. Besonders kleine Unternehmen und Soloselbstständige berichten von Problemen bei Beantragung und Auszahlung von Förderungen. Auf der anderen Seite werden mit dem Einstieg des Staates in die Lufthansa 9 Mrd. Euro öffentliche Gelder zur Rettung eines Unternehmens aufgewandt, ohne vorher Einigungen für den Erhalt von Arbeitsplätzen oder schärfere Klimaziele für eine höchst umweltschädliche Industrie einzugehen. Auch wenn der Mechanismus der Kurzarbeit in europäischen Ländern für den Erhalt von vielen Arbeitsplätzen gesorgt hat (die Quote von Arbeitslosen ist in den USA in einem ähnlichen Maße gestiegen, wie die Quote der Kurzarbeiter in Deutschland), wird hier die Diskrepanz zwischen der Vorstellung der Privatwirtschaft und deren Realität sehr deutlich. Während die Politik zu Privatisierung greift, da die privatwirtschaftliche Organisation der Wirtschaft die vermeintlich effizientere Variante sein soll, zeigt sich in der Krise, wie labil und kurzsichtig dieses System ist. Da Risiken, wie beispielsweise das Ausbrechen einer Pandemie, nicht im Wirtschaftsmodell von Unternehmen einbezogen werden, sind diese wieder Abhängig von öffentlichen Rettungsgeldern.

Auf der anderen Seite kann man die – doch teils überraschende – Entwicklung hin zu einer volkswirtschaftlichen Sichtweise, zumindest gegenüber der Bewältigung vergangener Krisen (insbesondere der Eurokrise), lobend aufnehmen. Auch besonders festgefahrene Dogmen, wie das der „schwarzen Null“ oder der Funktionsweise europäischer Geldpolitik, werden im öffentlichen Diskurs kritisch hinterfragt.

Wie geht es weiter?

Um einen Blick in die ökonomische Zukunft zu gewähren, soll an dieser Stelle ein weiterer „Akteur“ des Wirtschaftssystem vorgestellt werden: Die Börse. Der eindringlichste Weg zu beschrieben, was an der Börse geschieht, ist mit einem etwas abgedroschenen, aber kritisch betrachtet sehr zutreffenden Satz: An der Börse wird die Zukunft gehandelt. Wertpapiere werden dann gekauft, wenn der Käufer davon ausgeht, dass sie in Zukunft mehr Wert sein werden als zum Zeitpunkt des Kaufs, und verkauft, wenn von einem sinkenden Wert ausgegangen wird. Die Bewahrheitung dieser Prognosen ist jedoch keine rein rationale Entwicklung, sondern eher das Ergebnis einer „Schwarmintelligenz“ der handelnden Personen. Da diese einfache Erklärung für keinen hinreichenden Nachrichteninhalt dient, werden Narrative aufgespannt, die die Entwicklung an der Börse begründen. In den Börsennachrichten sind wir Sätze gewohnt, wie „die Einigung im Handelskrieg zwischen den USA und China hat die Börsen beruhigt. Der DAX beendet den Tageshandel bei +4,6 %“. Dass diese Narrative zwar oft die Realität abbilden, jedoch keineswegs wasserdichte Begründungen für Börsenbewegungen sind, konnte man im Börsenbericht vom 02.06.2020 miterleben, der in seiner Ehrlichkeit eine Zäsur in dem medialen Blick auf die Börse darstellt. Im ZDF heute Journal antwortet Börsenkorrespondent Frank Bethmann auf die Frage „Wie ist dieser Anstieg zu erklären?“: „Tja, der lässt sich nur erklären, wenn man alle Risiken, wie Unruhen, Corona oder Handelskonflikte konsequent ausblendet und stattdessen voll darauf setzt, dass sich die Wirtschaft doch schneller als erwartet erholt – irgendwie – und [dies] nicht durch Fundamentaldaten unterfüttert“. An den Bewegungen der Börse kann dementsprechend abgelesen werden, dass die Akteure an einen schnellen Wiedereinstieg in ein wachstumsorientiertes Wirtschaften glauben. Das Résumé: Während die Arbeitslosenquote in den USA von 3,5 % im März auf 13,3 % im Mai gestiegen ist, ist das Vermögen der amerikanischen Milliardär:innen laut Schätzungen im gleichen Zeitraum um über 600 Mrd. Dollar gestiegen.

Aktuell liegt der DAX wieder bei Werten, die denen des Vorjahres überraschend ähnlich sind. Während unter Virolog:innen noch Uneinigkeit herrscht, ob eine „zweite Welle“ des Virus nun droht und welche Auswirkung diese auf die Wirtschaft haben könnte, berichten die ersten Ökonom:innen schon von der sonnigen Aussicht auf erneutes Wirtschaftswachstum nach dem bis zum ersten Quartal 2021 prognostizierten Abschwung. Mit dem Ende des Abschwungs an der Börse scheint also auch die Zeit des kritischen Hinterfragens und umgestaltenden Denkens ein jähes Ende zu finden.

Doch wie sieht die eigentliche Lage des Kapitalismus im Jahre 2020 aus? Wenn man sich einmal an die vor-Corona Wirtschaftsnachrichten erinnert, sollten Erinnerungen von negativen Wachstumskorrekturen, stagnierenden Nachfragewerten und Warnungen vor der Rezession aufkommen. Die Wirtschaftskrise 2008 ist zu einem großen Teil durch eine starke Nachfrage deutscher Produkte als Konsequenz eines starken Konjunkturpaketes in China hierzulande schwächer und kürzer zu spüren gewesen als in anderen Industrieländern. Ein solcher Nachfrageboom ist jedoch zurzeit nirgends in Sicht.

Alternativen?

Wie viel Kapitalismuskrise steckt in der „Coronakrise“?An dieser Stelle wird klar, dass die selbsterhaltenden Maßnahmen des Marktes bei weitem nicht ausreichen, um die Wirtschaft zurück in gewohnte wachstumstrunkene Bahnen zu lenken, geschweige denn den Weg in Richtung einer Wirtschaft entsprechend sozioökologischen Standards einzuschreiten. Ob in den USA, Japan oder Europa: Selbst die konservativsten Wirtschaftsvertreter stellen sich nicht mehr in den Weg staatlicher Investitionsprogramme. Auch der europäische Green Deal, angetrieben von der frisch gekrönten Komissionspräsidentin Ursula von der Leyen, zielt auf darauf ab, frischen Kraftstoff in den auslaufenden Wachstumsmotor zu gießen. Was im Ansatz kein schlechtes Vorhaben ist, muss jedoch auch so konstruiert werden, dass ökologische Zielvorgaben tatsächlich umgesetzt werden und gleichzeitig soziale Verhältnisse verbessert werden.

Auf der anderen Seite zeigt die Erfahrung der Coronapandemie die Auswirkungen einer einseitigen Disbalance unserer Wirtschaftsweise. Überlegungen – beispielsweise von Gemeinwohlökonom:innen – durch Verzicht und Einschränkung von Konsum ein besseres Leben für alle zu erreichen, sollten die Erfahrung der letzten Monate betrachten. Ein Einbruch der Nachfrageseite bei gleichbleibender Wirtschaftsweise führt unweigerlich zu sozialen Verwerfungen, da als erstes sozialschwache Schichten getroffen werden.

Hier wollen wir einen Schritt weiter gehen. Es ist unvermeidlich festzustellen, dass viele der negativen Auswirkungen der Pandemie nicht von der Pandemie an sich, sondern durch die Architektur des Wirtschaftssystems entstehen. Die beschriebene Dynamik des Kapitalismus und der Zwang zum Wachstum, machen einen Stillstand unmöglich. Die Kritik an dem kapitalistischen Wirtschaftssystem muss ganzheitlich gedacht werden. Das Ziel ist eine Wirtschaftsweise, die sich an dem Wohl der Menschheit orientiert. Was anhand dieses Beispiels konkret auch bedeutet, dass ein Umsetzen der erforderlichen Maßnahmen zur Sicherstellung der Gesundheit nicht mit dem Rückgang der (finanziellen) Lebensgrundlage einhergeht.