Ein Kommentar zu Streeck und zur Sammlungsbewegung #aufstehen

Alexander Recht, a.recht@gmx.de, Köln, 13.08.2018

Einleitung

DIE LINKE. Kreisverband Köln zum Thema Sammlungsbewegung

Wolfgang Streeck hat in der FAZ einen Artikel publiziert, der für eine „neu organisierte(.) Schnittmenge von linker SPD und realistischer Linker“[1] plädiert. Auch wenn es nicht ex- pressis verbis bestätigt wird, ist Streecks Artikel ein Plädoyer für die von Sahra Wagenknecht initiierte linke Sammlungsbewegung #aufstehen. Hierfür spricht nicht nur der Zeitpunkt der Publikation, der mit der Veröffentlichung der #aufstehen-Homepage kaum zufällig zusammenfällt, sondern auch, dass Streeck das Bewegungsprojekt von Sahra Wagenknecht unterstützt.[2] Zudem empfiehlt Wagenknecht ihrerseits Streecks Artikel auf Twitter: „Lesenswerter Artikel von Wolfgang Streeck in der #FAZ: ‚Nach dem Eintritt der #SPD in eine weitere große Koalition gibt es in Deutschland derzeit keine oppositionelle Machtperspektive mehr.‘ Das muss sich ändern. #aufstehen #Sammlungsbewegung.“[3] Dass Streeck einen Leitartikel zur Unterstützung von #aufstehen publiziert, gibt dem Publikum die Möglichkeit zur Erfassung eines möglichen inhaltlichen Programms der selbsternannten linken Sammlungsbewegung. Den bei DIE LINKE, SPD und Grünen organisierten Linken gibt der Artikel die Gelegenheit, sich zum Projekt einer linken Sammlungsbewegung zu positionieren – sei es zustimmend oder kritisierend.

Nicht alle Stellungnahmen zu #aufstehen waren bisher besonders überzeugend. Nicht we- nige haben sich damit begnügt, ihre Bejahung oder Ablehnung begründungslos zu formulieren. Doch auch manche Kritik, die sich an einer Begründung versucht hat, ist enttäuschend. Eine Argumentationsfigur von Kritikern des Wagenknecht-Projekts richtet sich zum Beispiel gegen die persönlichen Eigenschaften ihrer Mitstreiter Sevim Dağdelen von der LINKEN, Marco Bülow von der SPD und Antje Vollmer von den Grünen. Dağdelen sei in ihrer Partei unbeliebt, Bülow isoliert, Vollmer gehöre zum alten Eisen der Grünen und habe Anfang der 00er Jahre eine falsche Position in der Frage des Adoptionsrechts für Homosexuelle eingenommen.[4] Zwar hadert der Verfasser dieser Zeilen selber mit den Positionen von Sevim Dağdelen und findet die Position von Antje Vollmer zur Frage des Adoptionsrechts falsch. Dennoch ist eine solche Kritik unzureichend, da sie sich ad persnam der Betreiber von #aufstehen richtet und eben keine Entgegnung ad rem der Samm- lungsbewegung ist. Zudem ist es nicht sinnvoll, jemandem unabhängig von seiner Position vorzuwerfen, in seiner Partei isoliert zu sein.

Ein anderes Argument von Kritikern des Projekts lautet, dass es eine linke Sammlungsbewegung bereits gäbe. Der LINKE MdB Niema Movassat twittert: „DIE LINKE ist meine Sammlungsbewegung und wird es bleiben.“[5] SPD-NRW-Vorsitzender Sebastian Hartmann

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1 Streeck, Wolfgang: Hört auf, Europa als einen Wechselbalg zu behandeln! Raus aus der Sektiererei: Was muss eine zur Vernunft gekommene Linke öffentlich zur Sprache bringen?, in: FAZ vom 04.08.2018, S. 9. Wenn im Folgenden keine andere Quelle angegeben wird, wird indirekt aus diesem Artikel zitiert.

2 Vgl. o.V.: Wagenknecht startet linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“, in: FAZ Online vom 03.08.2018, aufstehen-15721293.html.

3 Twitter-Account von Sahra Wagenknecht, Eintrag vom 04.08.2018, 17:42 Uhr.

4 Twitter-Account von Niema Movassat, Eintrag vom 03.08.2018, 14:35 Uhr.

5 Twitter-Account von Niema Movassat, Eintrag vom 03.08.2018, 13:31 Uhr.


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wiederum twittert: „Die linke Sammlungsbewegung in Deutschland ist seit 1863 die #SPD. Wer mitmachen möchte, kann eintreten. #EndederDurchsage. #aufnachvorn.“[6] Wenn Repräsentanten zweier verschiedener Parteien des linken Lagers jeweils beteuern, eine Sammlungsbewegung für alle Linke zu sein, liegen offenbar beide falsch. Der von verschiedenen Parteien artikulierte Alleinvertretungsanspruch verdeutlicht, wie zersplittert die gesellschaftliche Linke ist und dass aktuell eben keine linke Sammlungsbewegung existiert, die viele Linke unter einem Dach zu sammeln vermag. Hinzu kommt die aktuell schwindende Überzeugungskraft des linken Lagers innerhalb der Bevölkerung. Auch wer zurecht Momentaufnahmen skeptisch gegenübersteht und Zweifel an der Summierbar- keit der Prozentanteile von DIE LINKE, SPD und Grünen hegt, wird nicht bestreiten, dass das summierte Ergebnis von 40-42% kein überragender Wert ist. Diese schwierige Ausgangslage spricht m. E. dafür, sich Gedanken um die Zukunft der gesellschaftlichen Linken zu machen. Daher ist auch keine Kritik daran zu üben, dass Linke aus verschiedenen Parteien einen Aufschlag zur Formulierung gemeinsamer linker Ansätze versuchen, sondern daran, wie das geschieht. Daher wird im Folgenden ohne Anspruch auf Vollständigkeit auf einige Aspekte der Sammlungsbewegung Bezug genommen und hierfür vor allem auf Streecks Artikel Bezug genommen, auch wenn wir nicht wissen, inwiefern dieser programmatisch repräsentativ für #aufstehen ist.

Fiskal‐, Geld‐ und Europapolitik

Fangen wir an mit der Fiskalpolitik: Wolfgang Streeck spricht sich dafür aus, die Schuldenbremse aus den Angeln zu heben, sei es durch Änderung der Finanzverfassung, sei es durch Umgehungsstrategien. Streeck schwebt hierfür die Einsetzung eines nicht durch die Schuldenbremse tangierten öffentlichen Infrastrukturfonds vor Augen.[7] Dieses Anliegen ist zu begrüßen, denn in einer Situation, in der Haushalte und Unternehmen Nettosparer und die deutschen Außenhandelsüberschüsse abzubauen sind, ist die Verschuldung des Staats notwendig und sinnvoll, zumal unter der Bedingung niedriger Zinssätze. Freilich ist darauf hinzuweisen, dass DIE LINKE schon seit langem gegen die Schuldenbremse eingetreten ist – übrigens vehementer als Sahra Wagenknecht, die früher öffentlichen Schul- den skeptisch gegenüberstand und behauptete, diese seien lediglich „die nicht mehr gzahlten Steuern und die verlorenen Finanzwetten der Reichen“.[8] Aber wollen wir nicht nachtragend sein: Sollte Sahra Wagenknecht hier zu einer Umkehr gelangt sein, wäre dies zu begrüßen. Aber es bliebe das Problem, dass die Parteiführungen und Mehrheiten von SPD und GRÜNE eisern an der Schuldenbremse festhalten.

Kommen wir zur Geldpolitik: Streeck weist zurecht darauf hin, dass Deutschland keine Melkkuh der Eurokrise war, sondern von der Politik der EZB sogar profitiert hat. Denn die EZB hat südeuropäische Staatsanleihen erworben, um den Zinsdruck angeschlagener südeuropäischer Staaten zu senken. Aus diesen noch höher verzinslichen Staatspapieren erzielt die EZB bis heute Erträge und leitet diese quotal an die nationalen Zentralbanken weiter, wovon die Bundesbank besonders begünstigt wird. Was folgt hieraus? Dass die

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6 Twitter-Account von Sebastian Hartmann, Eintrag vom 04.08.2018, 12:47 Uhr.

7 Eine andere Möglichkeit wäre die Einsetzung öffentlicher Unternehmen, deren Verschuldung ebenfalls unabhängig von der Schuldenbremse wäre, vgl. Dullien, Sebastian et al.: Zukunftsinvestitionen ermöglichen – Spielräume der Schuldenbremse in den Bundesländern nutzen! Berlin 2018, troost.de/kontext/controllers/document.php/3380.0/2/6e7c1d.pdf. Dieses Dokument entstand unter Beteiligung der LINKEN-Politiker Daniela Trochowski, Axel Troost und Harald Wolf.

8 Wagenknecht, Sahra: Millionäre besteuern, in: „Neues Deutschland“ vom 13.08.2012, wagenknecht.de/de/article/1374.millionaere-besteuern.html.


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EZB südeuropäische Staatsanleihen gekauft hat, ist richtig gewesen, denn dies hat die Zinssätze neu emittierter Staatsanleihen in den Staaten Südeuropas erfolgreich gesenkt und somit deren fiskalpolitische Spielräume für Staatsverschuldung erhöht. Besser wäre es sogar gewesen, die EZB hätte schon früher mit Ankündigung und Durchführung solcher Käufe begonnen. Sahra Wagenknecht hat leider stets gegen diese EZB-Politik polemisiert, teils sogar mit dem schlechten Argument einer vermeintlichen Enteignung von Kleinsparern aus der ordoliberalen Mottenkiste.[9] Wie sie dazu heute steht, ist genauso unklar wie die Haltung Wolfgang Streecks und der linken Sammlungsbewegung. Klar ist, dass die Partei DIE LINKE hierzu schwankt und ein leider keineswegs kleiner Teil der Partei ihrer Fraktionsvorsitzenden folgt. Anders verhält es sich mit SPD und Grünen, die zur Frage der Geldpolitik nicht besonders deutlich zu vernehmen waren, aber im Kern die Aufkaufprogramme der EZB unterstützt haben.

Freilich hat die EZB-Politik des Aufkaufs südeuropäischer Staatsanleihen einen gravieren- den Makel: Sie ist mit der Auflage einer äußerst unsozialen und wirtschaftlich depressiv wirkenden Austeritätspolitik konditioniert gewesen und hat Zinsgewinne nie solidarisch verteilt. Wolfgang Streeck kennzeichnet die Austeritätspolitik daher als „Waterboarding“. Und auch Sahra Wagenknecht hat hiergegen immer opponiert: zurecht. Dies hat sie aber keineswegs allein getan, denn in der Ablehnung der Austeritätspolitik stand die gesamte Partei DIE LINKE wie eine Eins zusammen. Leider haben SPD und Grüne die fatale und unsoziale Austeritätspolitik in großer Mehrheit unterstützt.

Doch es geht bei Streeck nicht nur um die Eurokrise, sondern um den Euroraum im Gesamten. In einem einheitlichen Währungsgebiet müsste eigentlich die Entwicklung der nominalen Lohnstückkosten der Nationalstaaten angeglichen werden, sonst gerät die gemeinsame Währung unter Druck. Im Allgemeinen, so die hier vertretene Position, wäre eine stärkere solidarische Integration innerhalb der EU unter Aufgabe nationalstaatlicher Souveränitätsrechte vonnöten, etwa eine Fiskal- und Sozialunion[10] oder eine gemeinsame, humanitär ausgerichtete Flüchtlingspolitik. Diese solidarische EU-Integration ist erst recht erforderlich, wenn die Lohnstückkostenentwicklung der Mitgliedsstaaten di- vergiert. Leider war eine solche divergente Lohnstückkostenentwicklung der Mitgliedsstaaten im Euroraum in den letzten Jahren gang und gäbe, so dass der Euro als Währung, in der sich Nationalstaaten an den Kapitalmärkten finanzieren, unter Druck geraten ist. Als Lösung schlägt Streeck keine stärkere solidarische Integration vor, sondern fordert für die Mitgliedsstaaten „eine souveräne Flexibilität in ihrer Geldpolitik“, ohne nur im Ansatz zu klären, was unter dieser nebulösen Flexibilität im Euroraum zu verstehen ist. Warum er sich zur Position einer solidarischen Integration innerhalb der EU ausschweigt, wird nicht klar. Tut er es, weil er sie grundsätzlich wegen der Aufgabe nationalstaatlicher Souveränität ablehnt oder weil er die Durchsetzung innerhalb der Mitgliedsstaaten als unrealistisch ansieht? Es bleibt der Verdacht, dass Streeck den Euro abschaffen möchte, wenn er sagt: „Nur wenn der Euro grundlegend um‐ oder, wenn das nicht möglich ist, rück‐gebaut wird, wird Europa überleben.“[11]

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9 Dies zeigt sich in einem DLF-Interview mit Sahra Wagenknecht: geldpolitik-naechster-crash-kuendigt-sich-an.694.de.html?dram:article_id=393577.

10 Vgl. Recht, Alexander / Schindler, Jörg / Weil, Torsten: Dem neuen Europa Inhalt geben. Grexit? Die Linkspartei darf sich nicht aus dem Diskurs über ein »anderes Europa« verabschieden. Ein Plädoyer, endlich die Hausaufgaben zu machen, inhalt-geben.html.

11 Streeck, Wolfgang: Hört auf, Europa als einen Wechselbalg zu behandeln!, a. a. O.


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Ein kluger Mann wie Streeck dürfte allerdings wissen, dass ein solcher währungspolitisch desintegrierender Eurexit Gefahr läuft, Währungsrisiken wieder aufflammen und Währungskosten steigen zu lassen sowie negative Auswirkungen auf europäische Kooperationen im Ganzen zu haben. Auch ist die Gefahr innerer Abwertungen durch Reallohnsenkungen zur Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit bei Wiedereinführung nationaler Währungen keineswegs aus der Welt.[12] Wolfgang Streeck geht leider auf diese Dissense innerhalb von und zwischen Parteien, die der Realisation einer Sammlungsbewegung erheblich im Wege stehen, nicht ein.[13] Jedenfalls ist DIE LINKE in dieser Frage gespalten, wohingegen SPD und Grüne in einer – teils leider unkritischen – Haltung der EU die Treue halten, ohne große Revisionen ihrer Praxis und Institutionen einzufordern.

Insgesamt mutet der Bezug von Streeck auf Europa merkwürdig an. Bei der Lektüre sei- nes Artikels drängt sich der Eindruck auf, er fühle sich bedrängt durch politische Kreise, die unterm Banner einer Pro-EU-Haltung die Vernunft in politischen Fragen beiseitedrängen würden. So formuliert er: „‚Europa‘ wird zur Lösung für alles: die Krise des Kapitalismus und der Demokratie, die wachsende soziale Ungleichheit, den Aufstieg Asiens und den Astieg des Westens, die Konfrontation mit Russland über das, was es als cordon sanitaire beanspruchen zu können glaubt, die Energieversorgung, die Terrorismusbekämpfung, die Flüchtlinge und den ‚Populismus‘ von rechts und links. Dabei nimmt es nach Bedarf wie ein Wechselbalg jede nur denkbare Form an, als flexible Projektion eines gleichermaßen Guten und Profitablen: pro bonum, contra malum.“[14]

Zum Teil liegt diese Annahme von Streeck daran, dass die berechtigte linke Kritik an zu sehr auf den Nationalstaat setzenden Ansätzen von manchen Kritikern mit begrifflichen Fouls geübt wird. Es ist sehr unlauter, Personen wie Streeck, die dem Nationalstaat künftig mehr und der EU weniger Kompetenzen zuweisen möchten, mit Blick auf die NS-Konnotation des Wortes als „nationalsozial(.)“[15] zu diffamieren. Dass Streeck hierdurch verletzt ist, schreibt er selber: „Wer es versäumt, die immer zahlreicher werdenden semantschen Geßlerhüte korrekt zu grüßen, läuft Gefahr, als neonazistischer Freund eines ‚Zurück

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12 Bei nominaler Abwertung der nationalen Währung ist es anfänglich möglich, eine Absenkung der nominalen Löhne und somit der Reallöhne zur Gleichstellung der Weltmarktpreise zu vermeiden. Allerdings gibt es ein Problem: Die Abwertung verteuert im direkten internationalen Preiszusammenhang die Importe, weswegen es über Einpreisungen von verteuerten Vorleistungen zu einer Preissteigerung des abwertenden Landes kommen könnte. Verzichten die Gewerkschaften auf kompensatorische Nominallohnsteigerung, sinken trotz konstanter Nominallöhne eben doch die Reallöhne. Erhöhen die Gewerkschaften kompensatorisch die Nominallöhne, bleiben zwar die Reallöhne konstant, aber dann verpufft der Abwertungseffekt zur Gleichstellung der Weltmarktpreise. Kurzum: Entweder die nominale Abwertung ist auch eine reale, dann aber korrespondiert den konstanten Nominallöhnen eine Reallohnsenkung; oder aber bei steigenden Preisen und Nominallöhnen bleibt der Reallohn konstant, aber dann korrespondiert der nominalen Abwertung keine reale Abwertung. Ein verteilungspolitischer Teilausweg aus diesem Dilemma bestünde darin, bei nominaler Abwertung nicht nur die Nominallöhne, sondern auch die Preise der Endprodukte trotz verteuerter Vorleistungen konstant zu halten. Freilich wäre es auch bei Verbleib im Euroraum möglich, dass die Unternehmen in Südeuropa ihre Preise senken, ohne die Löhne zu senken. Allerdings sind der Verteilungspolitik bei Preisbestimmungen Grenzen gesetzt.

13 Klaus Busch, Axel Troost, Gesine Schwan, Frank Bsirske, Joachim Bischoff, Mechthild Schrooten und Harald Wolf fassen die Dissense in der Europapolitik exzellent zusammen: troost.de/de/article/9412.replik-auf-heiner-flassbeck.html.

14 Streeck, Wolfgang: Hört auf, Europa als einen Wechselbalg zu behandeln!, a. a. O.

15 Lessenich, Stephan: Der Rassismus im lafonknechtschen Wagentainment, deutschland.de/artikel/1066535.der-rassismus-im-lafonknechtschen-wagentainment.html. Abgesehen von der benannten Diffamierung und der ebenfalls untauglichen Qualifizierung von Wagenknecht als Rassistin weist Lessenichs Artikel jedoch auch treffende Argumente auf.


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in den Nationalstaat‘, und damit als Befürworter einer Wiederaufnahme der europäischen Landkriege des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, aus der ‚pro‐europäischen‘ Kommunikationsgemeinschaft vertrieben zu werden.“[16]

Kann aber diese nachvollziehbare Verletztheit alleine erklären, warum Streeck das Bild einer vernunftfreien pro-europäischen Kommunikationsgemeinschaft zeichnet? Keines- wegs alle, die sich im Gegensatz zu Streeck für eine stärkere solidarische Integration in- nerhalb der EU aussprechen, benutzen die EU argumentativ als Passepartout zur Lösung aller Probleme und bezeichnen Personen wie Streeck als Rassisten. Dreht Streeck das un- lautere Vorgehen seiner Kritiker ins Gegenteil um und sortiert alle Befürworter einer so- lidarischen EU-Integration pauschal als dumpfe Grüßauguste von Geßlerhüten? Das wäre mehr als schade. Dass Streeck und wohl auch #aufstehen die Möglichkeiten von National- staaten überschätzen und jene einer Politikrevision auf Grundlage der EU zu klein reden, ist aus Sicht des Verfassers bedauerlich, aber hinzunehmen, da dieses Thema komplex und umstritten ist. Wenn jedoch darüber hinaus die Kultur der Auseinandersetzung an sachlicher Qualität verlöre, wäre das für die gesellschaftliche Linke nachteilig.

Arbeitsmarkt‐ und Sozialpolitik

Sehr zurecht übt Wolfgang Streeck Kritik an Hartz IV und beschreibt, dass „4,2 Millionen Personen von Sozialhilfe (‚Hartz IV‘) abhängen. Mehr als ein Viertel davon, 1,2 Millionen, sind sogenannte ‚Aufstocker‘, die zwar einen Arbeitsplatz oder auch zwei haben, dabei aber weniger verdienen als das von Hartz ohnehin kümmerlich genug bemessene Existenzminimum: Subventionierung von Lohndrückerei in der gewerkschaftsfreien Zone des Dienstleistungssektors.“[17] Aus der LINKEN wird ihm da kaum jemand widersprechen,[18] wohl aber viele bei SPD und Grünen, die nach wie vor die falsche, neoklassische These vertreten, hohe Kosten beim Grundlohn und hohe Lohnnebenkosten würden zwingend zu Arbeitslosigkeit führen, ohne die Nachfragewirkung von Löhnen und durch Sozialbeiträge finanzierten Sozialleistungen zu beachten.[19]

Etwa im Verweis auf das „Armutsrisiko in Deutschland, (…) eine alleinerziehende Mutter von zwei oder mehr Kindern zu sein“,[20] beschreibt Wolfgang Streeck die soziale Schieflage in der Bundesrepublik. Er begrüßt höhere Sozialhilfesätze, fordert jedoch darüber hinaus:„Höhere Mindestlöhne wären besser, allgemeinverbindliche Tarifverträge noch besser, nicht zu vergessen ‚Bildung, Bildung, Bildung‘.“[21] In der Forderung nach mehr Bildung und mehr allgemeinverbindlichen Tarifverträgen dürfte Streeck bei SPD, Grünen und LINKE zugleich auf offene Ohren treffen. Bei der Frage des Mindestlohns liegen die Differenzen zwischen den dreien Parteien nicht in der Regelung als solcher, sondern in der Höhe. DIE LINKE tritt am vehementesten für einen Mindestlohn ein, der dazu beiträgt, später Rentenanwartschaften zu erwerben, die über der Grundsicherung im Alter nach SGB XII liegen. In der Frage der höheren Sozialausgaben liegt Streeck mit der LINKEN auf einer Linie,

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16 Streeck, Wolfgang: Hört auf, Europa als einen Wechselbalg zu behandeln!, a. a. O.

17 Streeck, Wolfgang: Hört auf, Europa als einen Wechselbalg zu behandeln!, a. a. O.

18 Damit ist aber nicht gesagt, dass ökonomische Inkompetenz in der LINKEN keine Rolle spielen würde.

19 Zusätzlich zur Nachfragewirkung müsste außerdem das gesamtwirtschaftliche Nominallohnniveau in sei- nem Zusammenhang zur Erwerbstätigenproduktivität, also die nominalen Lohnstückkosten, in die Analyse miteinbezogen werden.

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bei SPD und Grünen hingegen dürfte es zu Problemen zu kommen. Ursächlich ist hierfür einerseits das von diesen Parteien nach wie vor vertretene Credo von „fördern und fordern“, andererseits der fiskalpolitische Konservatismus, der sich in der von SPD und Grünen befürworteten Schuldenbremse manifestiert.

Streeck nimmt nicht Stellung zur Frage der Ausgestaltung der Sozialleistungen. Teile der LINKEN vertreten leider nicht die Position einer repressionsfreien Mindestsicherung, sondern die eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE).[22] Es ist keine offizielle Position der LINKEN, das BGE zu fordern. Auch bei SPD und Grünen ist das BGE nicht mehrheitsfähig, und es ist zu vermuten, dass auch Streeck das BGE nicht fordert. Neben allen untauglichen Positionen setzt jedoch das BGE an einer interessanten Frage an, nämlich an der des Hinzuverdienstes. Sozialstaatliche Systeme, die bei der Ermittlung der Transferleistungshöhe das hinzuverdiente Einkommen in hohem Umfang anrechnen und mithin geringe Absetzbeträge gewähren, führen zu drei Konsequenzen: Sie sind erstens strikt bedarfsorientiert; zweitens bleibt den geringverdienenden Lohnarbeitenden wenig vom Hinzuverdienst übrig; drittens wird dadurch der Arbeitgeber verpflichtet, den Anspruch der Lohnarbeitenden auf hinreichendes Einkommen zu großen Anteilen selber zu zahlen. Bereits beim Übergang von der alten Sozialhilfe auf Hartz IV wurde dieses Prinzip der hohen Anrechnung von Hinzuverdienst durch höhere Absetzbeträge aufgeweicht, so dass die Möglichkeit des Hinzuverdienstes erhöht wurde und die Arbeitgeber Teile der der Reproduktionskosten der Arbeitskräfte auf den Staat abwälzen konnten. Dass die Zahl der Aufstocker, wie Streeck zurecht moniert, in die Höhe geschnellt ist, liegt daher auch an den größeren Absetzbeträgen beim ALG II, und wenn dessen Regelsatz erhöht wird, steigt die Anzahl der Aufstocker ohne Erhöhung der Löhne nochmals. Dadurch wird die Forderung nach deutlicher Anhebung des Regelsatzes nicht falsch – sie bleibt richtig, aber man sollte dieses sozialstaatliche Konstruktionsproblem auf dem Schirm haben.

Nun könnte man womöglich fordern, dass bei Anhebung des Regelsatzes die Absetzbeträge wieder zu senken seien. Aus Sicht der Bedarfsorientierung und zur Vermeidung von Mitnahmeeffekten der Arbeitgeber wäre es richtig, die Senkung von Absetzbeträgen zu fordern, aber anreiztheoretisch wäre eine solche Politik schwierig vermittelbar. Denn die Folge wäre, dass Geringverdienenden vom Hinzuverdienst wenig übrigbliebe und daher die Aufnahme von Erwerbstätigkeit unterm Aspekt des Gesamteinkommens weniger attraktiv geriete.[23] Vielleicht ist es dieser Aspekt, der Streeck dazu veranlasst, niedrigere Sozialbeiträge für Geringverdienende zu fordern, womit die arbeitgeberfreundliche Lohnsubvention, die Streeck zurecht beim Grundlohn kritisiert, bei den Lohnnebenkosten durch die Hintertür doch zum Programm erhoben wird: „Und wenn schon Sozialbeiträge durch Steuern ersetzt oder ergänzt werden, dann läge es nah, jedenfalls für eine Linke, die sich ihren Namen verdienen wollte, damit am unteren Rand des Arbeitsmarktes zu beginnen, wo gleich hohe Beitragssätze für alle zu einer skandalös regressiven Abgabenbelastung füren, die selbst den OECD‐Vergleichern immer wieder auf das Unangenehmste auffällt.“[24]

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22 Zur Kritik am BGE sei auf einen Vortag des Verfassers von 2006 verwiesen, der hier einzusehen ist: https://www.dropbox.com/s/zrsivs0ob23ux9b/Grundeinkommen.ppt?dl=0

23 Allerdings soll an dieser Stelle betont werden, dass Erwerbslose die Aufnahme von Erwerbsarbeit kei- neswegs allein und in erster Linie von der Höhe des Hinzuverdienstes abhängig machen. Vielmehr dürfte der intrinsische Wunsch nach Teilnahme am Erwerbsleben sehr ausgeprägt sein.

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Die Finanzierung des Soziallohns wird auf diese Weise vom Arbeitgeber auf den Staat überwälzt, und zudem droht die Gefahr der Substitution von sozialversicherungspflichtigen Vollzeit- durch staatlich subventionierte Teilzeitstellen. Überdies ist Streecks Argument sachlich falsch, da nicht gleiche Beitragssätze zur regressiven Abgabenbelastung beitragen, sondern die Beitragsbemessungsgrenze. Auch wenn der Verfasser dieses Papiers aus genannten Gründen der einseitigen Absenkung von Sozialversicherungsbeiträgen skeptisch gegenübersteht, ist dennoch der Aspekt der Anreizorientierung für die künftige Debatte mitzudenken. Interessanterweise liegt Streecks Vorschlag übrigens auf der Linie der SPD, die in der Großen Koalition sich für die Entlastung von Geringverdienenden bei den Sozialabgaben stark macht.[25] Wie DIE LINKE, die von ihrer Grundhaltung eigentlich hiergegen sein müsste, und die Grünen hierzu stehen, ist unklar.

Regionalpolitik

Streeck kritisiert mit Recht zunehmende regionale Disparitäten innerhalb Deutschlands. Dabei richtet er den Blick nicht nur auf Ost-West-Unterschiede, also darauf, dass „weite Landstriche im Osten unter Abwanderung, Verödung und Verfall ihrer Infrastruktur“[26] litten, sondern darauf, dass wachsende Unterschiede zwischen Stadt und Land zu verzeichnen seien. Dabei verweist Streeck auf die Gefahr „eine(r) politisch verheerende(n) Gesellschaftsspaltung zwischen cosmopolitans und locals“,[27] sollte die Kluft zwischen Stadt und Land nicht eingeebnet werden. Mit diesem Befund hat Streeck recht. Zur Bekämpfung der angesprochenen Probleme schlägt er veränderte regionalpolitische Ansätze vor, etwa die Förderung eines modernen Genossenschaftswesens – eine Forderung, die sachlich gerechtfertigt ist und von LINKE, SPD und Grünen befürwortet werden dürfte.

Zur Finanzierung einer intensivierten Regionalpolitik müsste der Solidaritätszuschlag gleichsam auf Dauer gestellt und in seiner Nutzung auf alle Problemzonen Deutschlands, also nicht nur jene im Osten, ausgeweitet werden. Ein auf Dauer gestellter Solidaritätszuschlag ist allerdings verfassungspolitisch umstritten. Gleichwohl tut die gesellschaftliche Linke gut daran, an dem Solidaritätszuschlag festzuhalten. Sollte dies jedoch rechtlich nicht aufrechterhalten werden können, müsste zur Finanzierung des Abbaus regionaler Disparitäten die Steuerbasis verbreitert werden. Streeck schlägt hierfür vor: „Für hohe Einkommen müsste der Solidaritätszuschlag in einen zusätzlichen, höheren Spitzensteuersatz umgewandelt werden.“[28] Auch wenn es besser wäre, am Soli festzuhalten und nur für den Fall der Unmöglichkeit mit dieser steuerpolitischen Alternative aufzuwarten, ist sie gerechtfertigt. Auch hier dürfte ein solcher Vorschlag bei DIE LINKE auf Zustimmung treffen, vermutlich, wenn man den Programmen traut, auch bei den Grünen, bei der SPD ist diese Frage ungeklärt. Klar ist jedoch, dass die Frage der Höhe des Steuersatzes und des Einkommens, bei dem der Spitzensteuersatz einsetzt, politisch umstritten sein wird.

Eine weitere Alternative, die Streeck regionalpolitisch vorschlägt, sind „regionale(.) Komplementärwährungen zur Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts, wie

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25 Vgl. hierzu o.V.: Geringverdiener sollen von 2019 an geringere Sozialabgaben zahlen, https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/geringverdiener-sollen-bei-rentenbeitrag-entlastet-werden- a-1216550.html.

26 Streeck, Wolfgang: Hört auf, Europa als einen Wechselbalg zu behandeln!, a. a. O.

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28 Streeck, Wolfgang: Hört auf, Europa als einen Wechselbalg zu behandeln!, a. a. O.


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in der Schweiz, Großbritannien und Teilen Italiens.“[29]. Dieser Vorschlag ist unausgegoren. Weder ist klar, welche geldpolitische Autorität diese Währungen emittiert, noch wird auf die Schwierigkeiten eingegangen, den Außenwert dieser Währungen im Verhältnis zu starken Währungen zu fixieren.

Außenpolitik

In der Außenpolitik schlägt Streeck einen Kurs ein, wie man ihn von Teilen der LINKEN bereits kennt: Die USA seien der Bösewicht, dem das arme Deutschland unterworfen sei. So formuliert Streeck: „Trotzdem machen CDU und SPD die geopolitischen Narreteien der orientierungslos gewordenen absteigenden Supermacht nibelungentreu weiter mit: in Syrien durch migrationspolitische Absicherung des Hinausziehens eines Krieges, den man nicht gewinnen kann und deshalb nicht enden lassen will; oder in Afghanistan, wo die Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten unvorstellbar korrupte Regierungen mit Truppen und Dollars aussichtslos am Leben halten, während wir ihnen zuliebe eigene Truppen ins afghanische Feuer schicken und zugleich wehrfähige afghanische Männer, die keine Lust verspüren, uns bei der Bekämpfung der Taliban zur Seite zu stehen, als Flüchtlinge aufnehmen.“[30]

Nun soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die USA in außenpolitischen Angelegenheiten viele Fehler begangen haben. Es irritieren jedoch drei Aspekte. Erstens wird an keiner Stelle erwähnt, dass die USA nicht alleine intervenieren. Dass etwa Russland oder der Iran in besagtem Syrien auf sehr unschöne Art mitmischen, fällt unterm Tisch. Zweitens wird die Unübersichtlichkeit der weltpolitischen Beziehungen beantwortet, als sei es möglich, sich interventionsfrei herauszuhalten. Dies aber ist in dieser Welt mit ihren aufkommenden Bedrohungen wie Ungleichheit, Terror, Bürgerkrieg, Islamismus, Antisemitismus, Rassismus, politische Verfolgung und mit ihren moralischen Dilemmata kaum möglich. Und drittens wird leider das schon immer falsche Bild eines eigentlich nach mehr Souveränität verlangenden Deutschlands bedient, das sich jedoch durch Nibelungentreue wie ein Vasall an den US-amerikanischen Lehnsherren binde. Deutschland ist aber entgegen dem konstruierten Bild keineswegs ein Vasall der USA, sondern betreibt schon immer eine eigenständige Außenpolitik. Überdies ist es fraglich, ob eine Abkehr vom Westen eine sinnvolle Strategie darstellt. Überdies war es noch nie ein guter Ansatz, Deutschland als durch Fesseln kleingehalten darzustellen und ihm mehr außenpolitische Beinfreiheit zuzuweisen. Notwendig ist es vielmehr nach wie vor, dass sich Deutschland in supranationale außenpolitische Strukturen eingliedert.

Migrationspolitik

Kommen wir zum umstrittenen und auch komplizierten Punkt der Migrationspolitik. Kompliziert ist er auch deshalb, weil er ethische Fragen aufwirft, die schwer zu beantworten sind. Weltweit herrscht starke Ungleichheit, hinzu kommen Bürgerkriege und Um- weltprobleme. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass Push-Faktoren in den Ländern des Trikont wirken, aus denen migriert wird, und Pull-Faktoren in den Ländern des wohlha- benden Westens, in die migriert wird. Dass Migration stattfindet, ist also erklärbar, und die Länder des Westens sind für das Entstehen der Bedingungen, die zu Migration führen, zwar keineswegs alleine, wohl aber mitverantwortlich.

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Zweifelsohne führen aber Migrationsströme auch zu Kapazitätsproblemen und ökonomischen Herausforderungen bei Wachstum, Beschäftigung und Daseinsvorsoge, die zwar gestemmt werden können, dies aber weder voraussetzungslos, noch in beliebiger Höhe noch zeitlich unmittelbar. Dieses Dilemma einer möglichen Diskrepanz zwischen migra- tionspolitischen Herausforderungen und Kapazitäten kann dazu führen, dass die Frage nach „wie viele?“ und „wer?“ gestellt wird. Diese Frage zu stellen ist ethisch unbefriedi- gend, da es dann nur die hier lebenden Menschen sind, die diese Frage beantworten und somit über das Schicksal der hierhin migrieren wollenden Menschen mitentscheiden, weil also hier Lebende sich selber mehr Entscheidungskompetenz zuweisen als Migranten.

Dass dieses ethische Problem existiert, ist Wolfgang Streeck klar. Daher führt er aus, dass die hier lebenden Menschen eine größere Entscheidungskompetenz hätten, weil sie in der Vergangenheit mit Steuergeldern Ansprüche auf Transferleistungen sowie Nutzung und Schaffung von Infrastruktur erworben hätten. Migration würde daher zur Gefahr führen, dass die hier Lebenden unter Knappheitsbedingungen in ihren Ansprüchen enteignet würden. Wer sich gegen diese Gefahr wappne, laufe Gefahr, von wem auch immer als Rassist oder Nazi identifiziert zu werden. Im O-Ton Streecks: „Dazu wäre es nötig, aus einem Diskussionsmodus auszubrechen, der im Namen von ‚Weltoffenheit‘ umstandslos Mitbürger, mit denen man gestern noch friedlich zusammengelebt hat, zu Nazis und Rassisten erklärt, nur weil sie ihre politisch erstrittenen, mit ihren Steuern finanzierten Kollektivgüter vielleicht teilen, aber nicht für moralisch enteignungspflichtig erklären lassen wollen.“[31]

Dass Personen, die wie Streeck argumentieren, „umstandslos (…) zu Nazis und Rassisten erklärt“ würden, ist allerdings nicht zu erkennen, und es bleibt auch unklar, wen Streeck eigentlich dieses Vorwurfs bezichtigt. Darüber hinaus ist Streecks Argumentation aber auch inhaltlich problematisch. Denn wer soziale Rechte so einseitig daran knüpft, dass sie zuvor erworben worden sind, hat Probleme, die Ansprüche von hier lebenden Kindern, von Langzeiterwerbslosen oder von Nichterwerbspersonen, die alle mehr Werte erhalten, als sie schaffen, zu legitimieren. Aus linker Sicht haben aber alle hier lebenden Menschen zwingend soziale Rechte. Warum dann also keine Migrantinnen und Migranten?

Nun wäre es ein Leichtes, triumphal „haha!“ zu rufen und sich moralisch überlegen zu fühlen. Das soll hier aber nicht gemacht werden. Denn auch wenn die ethische Argumentation Streecks nicht überzeugt, so ist ihm zuzustimmen, dass es zu Verteilungsproblemen kommen kann und diese beantwortet werden müssen. Denn dass diese von den hier Lebenden beantwortet wird, ist zwar ethisch fragwürdig, aber die bessere Alternative, als keine Antwort zu geben und migrationsbedingte Verteilungskämpfe ohne soziale Regulation ablaufen zu lassen. Daher wird vom Verfasser die Position vertreten, so fragwürdig diese Abgrenzung auch ist, zwischen primär durch Verfolgung, Krieg und Not motivierter Flucht einerseits und primär durch unterschiedliche globale sozioökonomische Möglichkeiten verursachter Migration andererseits zu unterscheiden. In der Frage der Flucht sollten die Grenzen offen sein, in der Frage der primär ökonomischen Migration sollte es ein Einwanderungsgesetz geben, das maßgeblich auch die Interessen der Migrierenden mitberücksichtigt und eben nicht nur die Interessen der hiesigen Unternehmen.[32]

Auch Streeck unterscheidet: „Wer soll Priorität haben und zuerst kommen dürfen? Wen wollen wir nicht einreisen lassen, und wie setzen wir das durch? Für wen und wie viele

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32 Vgl. hierfür das umfangreiche Papier von Recht, Alexander: Migration und Ökonomie, Köln 2017, https://alexanderrecht.files.wordpress.com/2018/08/migration_und_c3b6konomie.pdf.


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können wir auf einem Niveau sorgen, das unseren Anspruch an uns selbst auf möglichst geringe Ungleichheit zwischen den Mitgliedern unserer Gesellschaft einlöst? Wie viel Platz ist in unserer Infrastruktur – Schulen, Wohnungen, Sozialhilfe usw. – für wie viele Neuankömmlinge pro Jahr? Wo beginnt Zuwanderung, unsere Arbeitsmärkte für einfache Arbeit unregu‐lierbar zu machen und die Lohnspreizung in unserem Beschäftigungssystem unakzeptabel wachsen zu lassen? Wie könnte ein faires Einwanderungsgesetz aussehen, das neben einem Punktesystem für berufliche Qualifikationen und Kontingenten für Familienzusammenführung und politisch Verfolgte auch ein Lossystem vorsehen müsste, um eine Privilegierung bestimmter Ethnien, Nationen und Kontinente zu verhindern?“[33]

Positiv ist, dass Streeck die sozioökonomischen Herausforderungen von Migration benennt und Fragen eines Einwanderungsgesetzes aufwirft, unter die sich die gesellschaftliche Linke zu häufig wegduckt. In der LINKEN wird diese Frage nicht immer inhaltlich und zu oft im Duktus einer Vorwurfskultur diskutiert, in der SPD wie auch bei den Grünen kommt die inhaltliche Frage eines Einwanderungsgesetzes ebenfalls zu kurz. Ebenfalls ist positiv zu würdigen, dass Streeck in seinem Vorschlag eines Einwanderungsgesetzes nicht nur die Interessen der Unternehmen zu berücksichtigen beabsichtigt. Schade ist aber, dass Streeck es bei der Frage nach „Wie viel Platz?“ belässt, ohne die gegebene Machbarkeit eines Quantums von Migration offensiv zu benennen, obwohl doch ein notwendiges Wachstum des BIP und seiner Nachfrageaggregate oberhalb der Zunahme an Erwerbsproduktivität benannt werden kann, so dass migrierende Arbeitskräfte genauso wie hier lebende Erwerbslose integriert werden und das Pro-Kopf-Einkommen steigt.

Eine offensive Benennung von Möglichkeiten würde nämlich der Debatte um Migration eine positive Wendung jenseits von Drohszenarien geben. Dieser bedauerliche Verzicht durchzieht leider mehrere Stellen in Streecks Artikel. So setzt Streeck unnötig aggressiv Hartz IV in Verbindung zu Migration: „Je mehr Flüchtlinge übrigens in Hartz‐IV hinein‐wachsen – schon heute stammt jeder zehnte Empfänger, im Behördenjargon, aus ‚Fluchtmigration‘ –, desto unwahrscheinlicher wird es, dass unsere Willkommensparteien sich trauen werden, die Hartz‐IV‐Sätze zu erhöhen.“ Das Problem einer unzureichenden Höhe des ALG-II-Regelsatzes bestand aber schon lange vor der Fluchtbewegung 2015, und dass Parteien wie CDU und FDP oder SPD und Grüne nicht bereit waren, den Regelsatz angemessen anzuheben, lag wahrlich nicht an der aufkommenden Migration. Umgekehrt wird die zurecht von LINKEN, SPD, Grünen sowie Teilen der CDU und FDP geübte Willkommenskultur, der Streeck leider skeptisch gegenüber zu stehen scheint, nicht dadurch falsch, dass CDU und FDP oder SPD und Grüne nicht bereit waren, den Regelsatz angemessen anzuheben. An anderer Stelle verknüpft Streeck die Außenpolitik auf fragwürdige Art und Weise mit Migration und unterstellt Deutschlands Außenpolitik in Syrien die„migrationspolitische Absicherung des Hinausziehens eines Krieges, den man nicht gewinnen kann und deshalb nicht enden lassen will“.[34] Möchte Streeck ernsthaft behaupten, dass Deutschland syrische Flüchtlinge ins Land aufnimmt, damit der Krieg in Syrien prolongiert statt beendet wird? Hierfür gibt es keinerlei Beleg, und es fehlt auch jede Begründung, warum die deutsche Außenpolitik diese Motivation aufweisen könnte.

Jedenfalls ist die Migrationsfrage auch in der gesellschaftlichen Linken umstritten. DIE LINKE weist, und das schließt auch Sahra Wagenknecht ein, in der Frage der Flucht bei Krieg und politischer Verfolgung eine saubere Bilanz auf, wohingegen leider die Grünen

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33 Streeck, Wolfgang: Hört auf, Europa als einen Wechselbalg zu behandeln!, a. a. O.

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und noch mehr die SPD die Verschärfung des Asylrechts mitgetragen haben. Jedoch gebietet es die Fairness, zuzugestehen, dass in der aktuellen Auseinandersetzung um Seenotrettung auch Grüne und SPD korrekte Positionen vertreten. In der Frage der ökonomischen Migration verfügen SPD und Grüne über Vorschläge für ein Einwanderungsgesetz, die jedoch beide zu sehr Migration aus Sicht von Unternehmen als Lösung für vermeintlichen Fachkräftemangel interpretieren – eine Sicht, die teils unzutreffend ist und die Abkehr dieser Parteien von einer keynesianischen Position dokumentiert. Leider weist jedoch auch DIE LINKE in der Frage eines Einwanderungsgesetzes und des erforderlichen BIP-Wachstums, um Migration sozial zu integrieren, weiße Flecken auf.

Das Problem linker Uneinigkeit

Schaut man sich nur die im Artikel von Streeck aufgeworfenen Fragen an, wird deutlich, wie uneinig die gesellschaftliche Linke ist. Daher wird nachfolgend eine Tabelle präsen- tiert, die die referierten Positionen aufzeigt. Dass der Verfasser dieser Zeilen trotz politischer Bedeutungslosigkeit aufgeführt wird, ist dem Gebot der Transparenz geschuldet.

Tabelle

Dass es schwierig ist, hieraus ein Bündnis zu zimmern, liegt auf der Hand. Hauptgrund ist die Uneinigkeit in der Sichtweise, nicht eine prinzipielle Blockadehaltung von Akteuren. Diese Erkenntnis ist bei einer realistischen Einschätzung von Möglichkeiten und Grenzen von erheblicher Bedeutung. Zweifelsohne wird von etlichen LINKEN der Einwand kom- men, dass SPD und Grüne keine linken Parteien (mehr) seien. In dieser Absolutheit ist diese Einsortierung fragwürdig, aber sie hat doch ihre partielle Wahrheit, wenn man den


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fiskal-, beschäftigungs- und sozialpolitischen Konservatismus von SPD und Grünen Revue passieren lässt. Doch welche Einschätzung man auch zu SPD und Grünen vertritt: Welche Alternativen zu einem Miteinander dieser Parteien gibt es?

Auf diese Frage hat DIE LINKE bisher keine wirklich befriedigende Antwort. Einerseits appelliert sie an SPD und Grüne, ihre Politik zu ändern, andererseits brandmarkt sie diese Parteien als Sachwalter neoliberaler Politik. Dabei gibt sie selten Auskunft über ihre eigene Bereitschaft zum Kompromiss, und unklar ist auch, wie sie sich Veränderungsprozesse vorstellt. Wenn, so die unausgesprochene LINKE Idee, SPD und Grüne sich nicht so verhalten, wie es sich DIE LINKE vorstellt, soll wohl der gesellschaftliche Druck so groß werden, dass irgendwie von selbst die gesellschaftlichen Mehrheiten für linke Politik entstehen – und zwar am besten so, dass DIE LINKE davon profitiert. Dummerweise geschieht aber weder das eine noch das andere – weder sind gesellschaftliche Mehrheiten in Sicht, noch steigt der Wahlerfolg der LINKEN wesentlich über 10% hinaus.

Es ist wohl diese Konstellation, die die Betreiber von #aufstehen dazu motiviert, eine Änderung des Ansatzes zu reklamieren. Dabei setzen sie auf eine gesellschaftliche Gruppe, die in der obigen Tabelle nicht erwähnt ist, nämlich die Gruppe jener, die aktuell gar nicht wählen oder nicht links wählen, weil sie der strategische Ansatz der LINKEN nicht überzeugt. Dabei sollen, das wird zunehmend klar, ausdrücklich auch Wählerinnen und Wähler gewonnen werden, die die AfD wählen. So sagt Sahra Wagenknecht: „Viele wählen die AfD aus Protest, das sind keine Rassisten, sondern Menschen, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen.“[35] Wie Wolfgang Streeck hierzu steht, ist unklar. Seine Einschätzung beschränkt sich auf seine Beschreibung der Ist-Situation: „Die Scholz‐Nahles‐SPD schrumpft unaufhaltsam; mit ihrer ‚Erneuerung‘ hat sie noch nicht einmal angefangen. Die Linkspartei wird durch ihren sektiererischen Flügel gelähmt, und die Grünen sind zu Merkels letzter Einsatzreserve mutiert.“[36] Diese Wahrnehmung Streecks muss zwar nicht, kann aber kompatibel mit Wagenknechts Empfehlung sein, denn wenn SPD und Grüne sich Streeck zufolge nicht erneuern können oder wollen und wenn Teile der LINKEN tatsächlich sektiererisch wirken sollten, kann eine Vergrößerung der gesellschaftlichen Wirkung der gesamten Linken nur erzielt werden, wenn nicht nur bisherige Wähler von SPD und Grünen, sondern auch rechts Wählende nach links gezogen werden.

Dieser Ansatz weist jedoch mehrere gravierende Schwächen auf. Es fängt damit an, dass ärgerlicherweise von Sektierern innerhalb der LINKEN fabuliert wird, ohne zu benennen wer und welche Schwächen hiermit gemeint sind. Unklar ist auch, wie bisherige Wähler von SPD und Grüne zur Sammlungsbewegung gezogen werden könnten. Dort, wo es zwischen LINKEN und Streecks inhaltlichen Positionen keine große Differenz gibt, fällt es schwer, sich hier einen Umkehrtrend vorzustellen. Aber selbst, wenn es gelänge: Was wäre in Summe gewonnen? Die linke Summe würde nicht wachsen. Womöglich besteht aber auch der Ansatz darin, prinzipiell linke Wähler, die nicht mehr wählen gegangen sind, nun zur Wahl zu bewegen und somit die linke Summe zu vergrößern und in ihr explizit linke Ansätze zu stärken. Auch hier gilt, dass bei geringer Differenz zwischen LINKEN und Streecks inhaltlichen Positionen unklar ist, warum durch #aufstehen plötzlich die linke Summe stark steigen sollte. Möglich wäre es, dass eine neue Tonalität gegenüber SPD und Grünen linke Nichtwähler zur Wahl bewegen könnte. Doch eine aufgeschlosse- nere Tonalität gegenüber SPD und Grünen war bislang von Sahra Wagenknecht gerade

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35 Interview mit Sahra Wagenknecht, in FAS vom 12.08.2018, S. 24.
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nicht zu erwarten. Der Ansatz einer noch schrofferen Tonalität erscheint als zweifelhafter Ansatz, die linke Summe zu vergrößern. Denn wieso sollte noch mehr linke Atonalität Menschen für die gesellschaftliche Linke mobilisieren?

Also bleibt die Hoffnung, bisher rechts Wählende für die linke Sammlungsbewegung zu motivieren. Doch hier steht die Grundannahme auf wackligen Füßen. Zwar ist vorstellbar, dass geringe Teile der rechten Wähler nur aus sozialer Not rechts wählen, ohne rechte Ressentiments zu haben. Ein beträchtlicher Teil der rechten Wähler wählt aber doch deswegen rechts, weil auf diese Weise rechte Ressentiments zum Ausdruck gebracht werden können. Möchte man diese Wähler für die linke Sammlungsbewegung gewinnen, stellen sich zwei Probleme. Erstens müsste gezeigt werden, inwiefern diese Personen gegenüber linken sozioökonomischen Positionen aufgeschlossen sind. Sind eine Aufhebung der Schuldenbremse oder eine Abkehr vom sozialpolitischen Repressionsregime überhaupt attraktive politische Vorstellungen für bisher rechtspopulistische und Wähler? Zweitens beschränkt sich eine linke Politik eben nicht auf sozioökonomische Fragestellungen. Ein Teil linker Identität ist es, Rechte für Migranten zu reklamieren und zivilisatorische Standards hochzuhalten. Wer, um rechtspopulistische Wähler für sich zu gewinnen, Recht von Migranten schwächt und auf die Formulierung zivilisatorische Standards verzichtet, betreibt auch keine linke Politik mehr. Hierbei geht es nicht um schrullige Sprachregelungen, über die man tatsächlich hier und da streiten könnte, sondern um Essentials. Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, ethischer Herkunft oder sexueller Orientierung ist zwar in der Tat nicht der einzige wichtige Punkt linker Politik, aber eben auch keine Petitesse. Diese Essentials sind nach wie vor zu erkämpfen – übrigens sowohl gegenüber Konservativen, die hier lange leben, wie auch gegenüber hierhin Migrierenden.

All das hinterlässt große Zweifel, worin das große Erfolgsrezept der linken Sammlungsbewegung bestehen soll. Freilich treffen alle beschriebenen Schwierigkeiten und Herausforderungen auch auf DIE LINKE selbst zu, aber dies gilt nicht weniger für #aufstehen, zumal die Sammlungsbewegung ein stark von oben gesteuertes Projekt und wenig partizipationsorientiert ist. Dass auch DIE LINKE sowie Linke in SPD und Grüne vor Herausforderungen stellen, sollte jedoch Kritikern der Sammlungsbewegung, und der Verfasser dieser Zeilen ist einer von ihnen, Anlass dazu geben, allzu große Selbstgewissheit zu vermeiden. Die Lage für die gesellschaftliche Linke ist angesichts des stärker werdenden Rechtspopulismus zu ernst, um sich hämisch zurücklehnen zu können.

Die gesellschaftliche Linke wird, so die zentrale These, nur dann an Bedeutung gewinnen, wenn sie erstens an zivilgesellschaftlichen Standards entschieden festhält, zweitens ihre Lücken, Defizite und strategischen Schwächen schonungslos anerkennt und drittens bereit ist, ihre soziökonomischen Politikvorschläge zu schärfen. Die gesellschaftliche Linke muss, wenn sie gesellschaftliche Mehrheiten für sich gewinnen möchte, die Frage des Pro-Kopf-Wachstums und der unverbrüchlichen Geltung von individuellen Freiheiten überzeugend beantworten, nämlich so, dass die erforderliche prinzipielle Affirmation gegenüber Migration einerseits und das Versprechen auf ökonomische Prosperität, soziale Sicherheit und Wahrung zivilisatorischer Standards andererseits möglichst weit politisch in Einklang gebracht werden.


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