Wahlsieg der Linken und Aufstieg der AfD in Thüringen – eine neue Konstellation

Pauls Post

Die Wahlen zeichnen sich durch ein herausragendes Ergebnis der Linken und durch einen beschleunigten Aufstieg der Alternative für Deutschland aus. Unmittelbar steht zwar eine von dem linken Wahlsieger Ramelow geführte Minderheitsregierung zur Debatte, doch denken einige bürgerliche Kräfte bereits über eine Bündniskonstellation von CDU und FDP mit der AfD nach. Beide Optionen rufen bereits Konflikte in den jeweiligen Lagern hervor, heftige schon im bürgerlichen, noch verdeckte im linken. Hinter den aktuellen Trends werden jedoch längerfristig wirksame Rahmenbedingungen erkennbar: die neoliberal durchgesetzte Entfesselung des Kapitalismus auf transnationaler Ebene und die westdeutsche Übernahme der DDR auf nationaler.

Wahlergebnisse: die Faktenlage

Zunächst einige Daten zu den Wahlergebnissen bei einer um 12% gegenüber 2014 auf 65% gestiegenen Wahlbeteiligung. Während die Linke mit 31% Stimmenanteil sich nochmals um 2,8% gegenüber 2014 steigerte, betrug ihr Vorsprung zur zweitplatzierten AfD 7,6%. Diese konnte sich jedoch von 10,6% auf 23,4% mehr als verdoppeln und vor die CDU setzen, die von 33,5% auf 21,8%, also um ein gutes Drittel absackte. Aber auch die Koalitionspartner der Linken mussten Federn lassen: die SPD 4,2 von ehemals 12,4%, die Grünen 0,5 von 5,7%. Damit hatte die Regierungskoalition ihre knappe Mehrheit verloren. Die FDP verdoppelte sich dagegen auf hauchdünne 5% und eröffnete numerisch eine neue rechtsbürgerliche Mehrheitsoption mit nationalistischem Einschlag.

Die Wanderungsbewegungen zeigen ein differenziertes Bild: Die CDU gab 36.000 Stimmen an die AfD ab, 30.000 an die Nichtwähler und immerhin 23.000 an die Linke. Diese erhielt noch 20.000 von der SPD, 9.000 von den Grünen und 53.000 von den Nichtwählern, während sie 16.000 an die AfD abgab. Letztere  sammelte weitere 7.000 von der SPD und 1.000 von den Grünen ein, konnte aber 78.000 Nichtwähler und 13.000 Sonstige mobilisieren. Diese Wählergruppen hatten in ihrem unbestimmten Protest gegen das etablierte Parteiensystem offensichtlich keine Bedenken, mit ihrer Stimme gerade den völkisch-nationalistischen Flügel der AfD zu stärken. Und das, obwohl deren politischer Kopf Björn Höcke sich in einzelnen Umfragen keiner großen Beliebtheit erfreute.

Am wenigsten bei den Frauen, deren Anteil bei den Landtagsabgeordneten der CDU und auch den Wählerinnen der AfD am geringsten ist, insgesamt paritätisch mit den männlichen Wählern jedoch bei den Regierungsparteien. Im Unterschied zu den rund 40% die Linkspartei wählenden über 60jährigen gaben jüngere Wählergruppen mehrheitlich der AfD die Stimme, am stärksten die 30- bis 44-Jährigen mit 28% gegenüber 22% jeweils für die CDU und Linke. Sie rekrutierten sich mehr oder weniger aus Arbeitslosen, Arbeitern und Handwerkern, insgesamt aus eher unteren Bildungsgraden. Das linke Wählerpotential erstreckte sich zudem auf mittlere Schichten mit höherer Bildung, die eine wachsende Mehrheit in der Bevölkerung darstellen.

Unklare politische Optionen in Thüringen

Trotz des Verlustes der Regierungsmehrheit stellt das rot-rote-grüne Regierungsbündnis eine unerwartete Erfolgsgeschichte dar – schon in der puren Existenz dieser Dreierkoalition über fünf Jahre mit der Mehrheit von nur einer Stimme, zudem erstmalig unter einem linken Ministerpräsidenten. Ein rasches, aber dann doch nicht eintretendes Scheitern schien vorprogrammiert. Jedoch über zwei Drittel der Wähler waren nach etlichen Befragungen mit der Arbeit der Regierung zufrieden, sogar über 60 % der CDU Wähler*innen. Insbesondere mit dem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, dem durchgängig ein ehrliches Interesse an den Belangen der Bürger*innen attestiert wurde. Entsprechend plädierten mehr als zwei Drittel der Thüringer*innen wie der CDU-Wähler*innen für Sondierungsgespräche mit der Linken, ein viel geringerer Anteil mit der AfD. Beides hatte die Thüringer Parteiführung der CDU vor der Wahl aber definitiv ausgeschlossen.

Eine satte Mehrheit von 34% gegenüber 13% der Wahlberechtigten beurteilte ihre Situation als besser denn schlechter, während 51% keine Veränderung konstatierten. Die relativ positive Bewertung hat ein reales Fundament in der konfliktfreien Zusammenarbeit der Koalitionäre, dem vor Ort ansprechbaren Ministerpräsidenten und vor allem einigen sozialen Verbesserungen: sich verringernden Abwanderungstendenzen, sinkender Arbeitslosigkeit, öffentlicher Übernahme von Wohnungen, Förderangeboten für Investitionen in Schulen, verbesserten kommunalen Infrastrukturen bei Kitas, Bildung, Gesundheit und Pflege. Die relativ gute sozialökonomischen Lage Thüringens im Vergleich mit anderen ostdeutschen Bundesländern schließt nach wie vor gravierende Defizite in der ländlichen Versorgung und bei Lohnunterschieden mit einem hohen Anteil von Niedriglöhnen ein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese von einigen Linken kritisierten Missstände nicht von einem Bundesland allein, schon gar nicht in einer Legislaturperiode bewältigt werden können.

Dem deutlichen, in der Bevölkerung überwiegend geteilten Plädoyer für eine von Bodo Ramelow geführten Minderheitsregierung stehen allerdings gravierende politische Widerstände entgegen: die offiziellen Absagen aus der FDP und CDU an irgendeine Zusammenarbeit mit der Linken und der AfD. Dies hat freilich bisher weder lokale Kontakte noch aktuelle Überlegungen zur Lockerung der Berührungsverbote ausgeschlossen. Eine Gruppe von CDU-Abgeordneten verlangt sogar „ergebnisoffene“ Gespräche mit der AfD, die selbst die Tolerierung einer CDU-geführten Minderheitsregierung anbietet. So dürfte sich trotz aller Dementis bei einer von der Linken geführten Minderheitsregierung zumindest fallweise eine rechtsbürgerliche Negativkoalition einspielen. Diese Option wächst mit der Stärkung des rechten Flügels in der Bundes-CDU, der in Gestalt des ultra-neoliberalen Friedrich Merz  ihre derzeitige Führung offen herausfordert. In diesem Kontext ist auch die sporadische Gesprächsbereitschaft des Oppositionsführers der CDU Thüringens mit der Linken, flankiert von einigen vorsichtig zustimmenden Kommentaren in bürgerlichen Leitmedien, strikt unterbunden worden. Davon zeugen wiederum rüde Abgrenzungen und Angriffe aus der antikommunistischen Mottenkiste etwa des Generalsekretärs der CDU Paul Ziemiak „CDU und Linke sind wie Feuer und Wasser“ (F.A.Z., 30.10.19).

Langfristige Wirkungszusammenhänge im Hintergrund

Wenn CDU-Politiker die Linke und AfD gleichermaßen von einer fiktiven demokratischen Mitte ausgrenzen wollen, dann nehmen sie nicht zur Kenntnis, dass die gerne beschworene demokratische Mitte inzwischen von der Thüringer Regierungskoalition repräsentiert wird. Und dass sich die vermeintliche bürgerliche Mitte wie in der Weimarer Republik längst nach rechts verschoben hat. Dafür spricht der in Längsschnittstudien konstatierte „Extremismus der Mitte“ mit seinen Ausfransungen zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Aus diesen Verschiebungen speist sich wiederum der Zulauf zur AfD, was die Wählerwanderung von der CDU und den Nichtwählern bei der aktuellen Landtagswahl bezeugt. Dies gilt aber selbst für rechtslastige Tendenzen unter Betriebsräten und Gewerkschaftsmitgliedern, auch wenn diese bei der aktuellen Wahl nicht überdurchschnittlich zum Tragen kamen.

Die Großen Koalitionen mit ihrem kompromissgebotenen Einschwingen auf rechtslastige Mittellagen leisten der Zersplitterung des Parteiensystems zwar Vorschub. Ursächlicher hierfür sind jedoch tiefgreifende sozialstrukturelle Veränderungen. Sie kommen im Kontext der neueren Technologieschübe und finanzmarktgetriebenen Kapitalmobilität in einer steigenden Flexibilisierung und Beschleunigung der Arbeits- und Lebensverhältnisse zum Ausdruck. Den vielfach beklagten Abnahmen von anhaltenden Bindungsbereitschaften in gesellschaftlichen Organisationen und privaten Beziehungen entsprechen die Übergänge von relativ festgefügten Klassenverhältnissen zu sich ausdifferenzierenden Milieus.  Dabei weicht der traditionelle Rechts-Links-Dualismus vorwiegend zweier großer Volksparteien einem Mehrparteiensystem mit mittleren und kleineren Parteien und entsprechenden Wechselbereitschaften der Wähler*innen. Die politische Instabilität mit ihren rechten Ausschlägen spielt sich unter der ökonomischen Vorherrschaft transnational operierender Kapitalfraktionen ab – jedoch auf einer schiefen Bahn sozialer Polarisierung mit sinkendem gesellschaftlichem Zusammenhalt. Hierfür zeichnen im Zeichen neoliberaler Marktfixierung staatlich regulierte Standortwettbewerbe mit arbeits-, sozial- und steuerpolitischen Unterbietungswettläufen verantwortlich. Solch „marktkonforme Demokratie“ mit ihren Substanzverlusten trägt zur Bildung oder Stärkung rechtsnationaler Parteien bei, so unterschiedlich diese Prozesse im Einzelnen in den westeuropäischen, selbst nordischen Ländern je nach historischer Tradition verlaufen mögen.

In Deutschland besteht die Besonderheit, dass der sprunghafte Aufstieg der AfD zusätzlich von den Nachwirkungen der kompromisslosen Übernahme der sich auflösenden DDR gespeist wird. Dies ging mit einer durchgängigen Entwertung ihrer gesellschaftlichen Leistungsbilanz, der individuellen Lebensläufe und einem umfassenden Elitenwechsel einher: „Die DDR-Wirtschaft wurde liquidiert und von der Treuhand exekutiert. Die führenden Schichten des Landes wurden deklassiert. Nicht nur die DDR-Kader waren davon betroffen, sondern auch die Eliten in Wirtschaft und Kultur. Es gab nichts Richtiges mehr im Falschen. Die neuen Bundesländer wurden von den West-Eliten kolonisiert“ (Heribert Prantl, SZ vom 2. Nov. 19). Die im Zeichen des DM-Rausches („Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’ n wir zu ihr“) willfährige Unterwerfung, industrielle Abwicklung und folgende Arbeitslosigkeit ließ auf dem Boden der sich antifaschistisch verstehenden DDR subkutan einen braunen Sud hervorbrechen. Die erlittenen Demütigungen wurden zunächst auf verbliebene ausländische Vertragsarbeiter, später dann trotz sich insgesamt verbessernder Beschäftigungs- und Lebensbedingungen auf Migrant*innen, schließlich ebenfalls auf die vorwiegend westdeutschen Exponenten der „Willkommenskultur“ projiziert. Im totalen Widerspruch zu dieser kann nunmehr sanktionslos im rechtsextremistischen „Flügel“ der AfD für eine „Säuberung“ Deutschlands von „kulturfremden Menschen“ plädiert werden. Derart faschistoide Bekundungen scheinen in einer aus verschiedenen Quellen sich speisenden „Wut-Projektion“ umso stärker Anklang zu finden, je weniger ihnen eine reale Grundlage geboten wird – bei einem Migrationsanteil unter maximal 5% gegenüber um 25% in alten Bundesländern.

Und die strategischen Perspektiven der Linken?

Die anfängliche Stärke der Linken, obwohl diffamiert als Statthalter des „Unrechtsstaates“,  hat in den neuen Bundesländern abgenommen. Sie konnte den übermächtigen Wirkungen der neoliberalen Strategien mit der Absenkung der Lohn- und Sozialstandards im Westen und ihrer nur bedingt abgebauten Unterschiede zum de-industrialisierten Osten nicht alleine trotzen. Dem war schon die Sozialdemokratie mit der Verpfändung ihres Markenkerns in der „Agenda 2010“ zugunsten der westdeutschen Exporthegemonie erlegen. Dieser komplexe Kontext ist ein Erklärungsgrund für die ostdeutschen Wählerverluste der Linkspartei in den letzten Jahren, die im Verhältnis zur deutschlandweit abschmelzenden SPD dennoch eine relative Stärke dank ihrer sozialen und demokratischen Orientierungen beibehielt. Sie sollte sich angesichts erfolgreicher Regierungstätigkeit in Thüringen nunmehr bei den Landtagswahlen auszahlen.

Das bedeutet, sich nicht nur auf die reine Abwehr rechtsradikaler, rassistischer und nationalistischer bis offen faschistischer Umtriebe zu konzentrieren. Der hier grassierenden Kritik  am demokratischen und parlamentarischen System schlechthin muss mit der unablässigen Aufklärung darüber begegnet werden, dass verringerte Investitionsquoten und verfallende Infrastrukturen, steigende Mieten und Bildungsdefizite, ein ausgeweiteter Niedriglohnsektor und sinkende Alterssicherung der einseitigen Aneignung des gesellschaftlich erzeugten Reichtums durch die oberen Klassen mit der Finanzbourgeoisie an der Spitze geschuldet sind, und rein gar nichts mit der Zuwanderung von Geflüchteten, allenfalls mit deren Ausbeutung als soziales Druckmittel zu tun haben. Umgekehrt können diese sozialökonomische Defizite durch Abwanderung kompensieren: Migration als ein weithin anerkanntes akutes wirtschaftliches Erfordernis und wirksamer Faktor in der langfristigen Stärkung der Sozialsysteme. Diese bedürfen gegenüber neoliberal gesteuerten Standortwettbewerben und Dumpingstrategien freilich vielfältiger Widerstände, auf verschiedenen, insbesondere gewerkschaftlichen Ebenen.

Gesellschaftliche Aktivierungen und soziale Bewegungen mit schlüssigen Umkehrungen der Beweisführung müssen verbunden werden mit konkreten Vorschlägen zu sozialökonomischen Verbesserungen vor Ort. Letztere verlangen zivilgesellschaftlichen Rückhalt und politische Bündnisse zur Umsetzung etwa von Digitalisierungs-, Verkehrs- und Vorsorgeprojekten. Hierfür stehen entgegen allen „schwarzen Nullen“ vermehrte Investitionen und zu verbessernde Infrastrukturen auf der Tagesordnung, insbesondere in ländlichen Gebieten, abgehängten und weiter ausblutenden Regionen im Osten wie im Westen. Dienen diese doch als bevorzugte Rekrutierungsstätten des „gärigen Haufens“ (Alexander Gauland) für  rassistische, islamfeindliche und antisemitische Einstellungen! Deren Zurückdrängung wird zu einer vordringlichen Aufgabe demokratischer Entwicklungsarbeit im eigenen Lande. Die erfolgreiche Existenz einer von links geführten Regierung wie überhaupt progressiver Koalitionen hilft, antisozialistische Ressentiments und den weiteren Vormarsch faschistischer Umtriebe einzudämmen. Das thüringische Wahlergebnis zeigt aber auch, dass hierfür in verstärktem Maße gesamtgesellschaftliche Anstrengungen erforderlich werden.

Paul  am 3. November 2019

Paul Oehlke ist Sozialwissenschaftler. Er gehört der Kölner LINKEN sowie dem Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW an.

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