Mein amerikanischer Albtraum

Pauls Post

In den Jahresanfang begleiten uns in der Regel positive Vorsätze. So wollen wir als politische Akteure in unseren überschaubaren Handlungsfeldern mehr erreichen. Darüber hinaus gibt die allgemeine Weltlage jedoch, so sagt unser Außenminister, zu Besorgnis Anlass. Freilich, ohne hierfür Ross und Reiter direkt haftbar zu machen: die USA und Donald Trump; genauer: die aggressiven Klassen- und sich kriegsbereit gebenden Führungskräfte. Wollen diese doch  Amerika wieder groß machen („Make America Great Again“). Dies auf Kosten von Handels-, Klima- und Rüstungsabkommen, die allesamt gekündigt werden. Hiermit sind wirtschafts-, umwelt- und militärpolitische Krisen vorgezeichnet.

Es scheint so, als habe sich das einst bewunderte Land, in das Geschwister meiner Großeltern noch voller Hoffnung aufgebrochen sind, für mich ins Gegenteil verkehrt. So sagt die erneuerte „geo-politische“ Doktrin doch, dass die USA ihre vormals dominante Stellung – koste, was es wolle – wieder erlangen müsse. Eine Pax Amerikana als neue Weltordnung nach dem Untergang der früheren Sowjetunion. Das heißt vor allem: unbeschränkte Zugänge und Zugriffe zu Märkten und Ressourcen in aller Welt, was auch der Verteidigungsminister  Peter Struck ohne Federlesen schon 2002 als sicherheitspolitische Richtlinie verkündete. Als ich das hörte, fragte ich mich, ob es sich nicht um die Wiederkehr der klassischen Imperialismus-Definition von John Atkinson Hobson (1858-1940) handelt.

Aufstieg und Fall großer Mächte

Dahinter steht die weitgehend geteilte Einsicht, dass trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion, des gefeierten Sieges des Liberalismus über den Kommunismus, des vorausgesagten Endes der Geschichte wir in einer multipolaren, sich verändernden Welt leben. In der zunächst China, aber zukünftig auch andere aufstrebende Mächte, selbst die schwächelnde EU, die bereits länger andauernde hegemoniale Stellung der USA zumindest auf wirtschaftlicher Ebene in Frage zu stellen beginnen. Das lässt sich mit diversen sozial-ökonomischen Kennziffern in einem Längsschnitt belegen.

Hierauf hatte bereits Paul Kennedy vor gut drei Jahrzehnten in seinem großen Werk über den „Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000“ (Fischer 1989, Fontana 1988) hingewiesen. Auch darauf, dass in neuerer Zeit die USA ihre schwindende wirtschaftliche Vorherrschaft durch einen politischen Mix gewaltförmiger Operationen, dabei ihre Macht gegenüber den verringerten Ressourcen „überdehnend“, zumindest auf Zeit zu kompensieren versuchen. Anhand der historischen Fakten wurde mir klar, in welchem Ausmaß die herrschenden Kräfte in großen Staaten sich von kooperativem Ausgleich untereinander, längerfristig auch zu ihrem eigenen Schaden, vor allem ihrer Bevölkerungen, entfernen können.

Das strategische Konzept erneuerter Hegemonie

Kennedys Analyse lässt sich in verstärktem Maße seit Donald Trumps Regierungsantritt belegen, auch wenn der Blick hierfür durch zuweilen irrlichternde Entscheidungen vernebelt wird. Während unter dem Präsidenten Barack Obama im Großen und Ganzen eine hierzulande weitgehend begrüßte Realpolitik des Ausgleichs vorherrschte, natürlich auch unter Wahrung der amerikanischen Interessen, wurde unter seinem Nachfolger handlungsleitend, die USA aus jeglichen vertraglichen Bindungen herauszubrechen. Es ging den USA darum, wieder vollständige Entscheidungsfreiheit in Handels-, Rüstungs- und Umweltfragen als hegemonialer Macht in der Welt zu erlangen.

Dass dabei insbesondere unter der Präsidentschaft Barack Obamas (2009-2017) getroffene, völkerrechtlich bindende Vereinbarungen wie auch das 2015 mit den UN-Vetomächten, Deutschland und Iran beschlossene Atomabkommen geschliffen werden, ist zudem ein rassistischer Binneneffekt weißer amerikanischer Suprematie um jeden Preis. Dass sich die reaktionäre Waffenlobby trotz steigender Gewaltverbrechen im eigenen Lande uneingeschränkter Förderung erfreuen kann, schließt den historischen Bogen rückwärts zur Wiege der USA: der schonungslosen Ausrottung der indianischen Urbevölkerung und der millionenfachen Zufuhr von afrikanischen Sklaven.

Die gewalttätige Schlagseite unbegrenzter Freiheit

Angesichts dieses Tatbestands hat der Traum unbegrenzter Aufstiegsmöglichkeiten, die mit der sich nach Westen jahrhundertelang verschiebenden Grenze verbunden waren, eine gewalttätige Schlagseite: das „amerikanische Paradox“ von Sklaverei und Freiheit (Edmund S. Morgan 1972, 1975). Der individuelle Freiheitsmythos mit der Waffe in der Hand der Siedler war in den bei meiner Generation so beliebten Western, aber auch in der Herrschaft über Sklaven untergründig immer präsent. Allerdings standen die in riesigen Auflagen erscheinenden großen Epen „Lederstrumpf“, ein Romanzyklus aus den 1820er Jahren von James Fenimore Cooper (1789-1851), und der 1852 veröffentlichte Roman „Onkel Toms Hütte“ von Harriet Beecher Stowe (1811-1896) für ein zugleich humanistisch aufgeladenes Bild des „edlen“ Wilden und christlich inspirierten Sklaven. Entsprechend spielte die Frage der Sklaverei eine zentrale Rolle im amerikanischen Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten (1861-1865).

Die widersprüchliche Geschichte der USA wurde durch den nach den Weltkriegen in Europa verhimmelten amerikanischen „way of life“ mit der medienwirksam immer wieder ins Bild gesetzten Freiheitsstatue weitgehend überdeckt. Ich erinnere mich an Gespräche der Eltern in den späten 1950ern/frühen 1960ern, in denen der Schwarze Jesse Owens (1913-1980) mit seinen vier Goldmedaillen bei der Olympiade 1936 eine keineswegs übliche Anerkennung erfuhr. Später erzielten bei Jüngeren wiederum die zuvor noch verdammte afroamerikanische Jazzmusik, später der von Bill Haley (1925-1981) und Elvis Presley (1935-1977) popularisierte Rock `n` Roll  eine wachsende, vielfach enthusiastische Aufnahme, erstere mehr in kleineren Bands gymnasialer bürgerlicher Jugendlicher, letzterer eher unter proletarischen Heranwachsenden, den aufmüpfigen „Halbstarken“ gegen Ende der 1950er. Schließlich trug der Kennedy-Kult („Ich bin ein Berliner“) in der gefrorenen Adenauer-Ära zu aufbrechenden politischen Konstellationen bei, den Aufstieg für den im Establishment verpönten, aus dem norwegischen Exil kommenden Willy Brandt ebnend.

Bürgerrechtsbewegung und Vietnamkrieg als Wasserscheide

Der autoritäre „CDU-Staat“ (edition suhrkamp 370/1+2: 1969), schon von der Spiegel-Affäre 1962 und den Auschwitzprozessen 1963-1966 erschüttert, war in der Wirtschaftskrise 1966/1967 an seine Grenzen gestoßen. Sie wurden dann mit der außerparlamentarischen Oppositions- und antiautoritären Studentenbewegung der späten 1960er gesprengt. Dieser Aufbruch blieb nicht nur auf Deutschland beschränkt, sondern trug auch in anderen Ländern, hier teilweise von noch lebendigen Arbeiterbewegungen unterstützt, vielfältige Früchte: im „Prager Frühling“ und der französischen „Maibewegung“ 1968, dem „Heißen Herbst“ 1969 in Italien und dem Streben der  Allende-Regierung in Chile 1970-1973 nach einer sozialistischen Demokratie, der Abdankung diktatorischer Regime in Griechenland, Spanien und Portugal.

In allgegenwärtigen Forderungen nach Mitbestimmung, Selbstverwaltung, ja nach umfassender Demokratisierung zeichnete sich ein erstes Wetterleuchten jener noch heute wirksamen kooperativen Impulse neuer informationsgesellschaftlicher Produktivkräfte ab, deren gesellschaftliche Einlösung noch zu bewerkstelligen ist. In der breiten Mobilisierung bekam die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner in den 1960er Jahren bis zur Ermordung Martin Luther Kings 1968 („I Have a Dream“) ebenso eine verstärkende Funktion wie der massive Protest amerikanischer Jugendlicher und Studenten gegen den brutal geführten Krieg in Vietnam, das der amerikanische General Westmoreland (1914-2005) in die Steinzeit zurückbomben wollte. Unvergessen bleibt der symbolische Schulterschluss beider Bewegungen in Muhammad Alis Weigerung, gegen den Vietkong zu kämpfen („Kein Vietcong nannte mich jemals Nigger“).

Wachsende Erkenntnisse über amerikanische Machtpolitik

So verblasste der nach dem Zweiten Weltkrieg hierzulande populäre amerikanische Traum immer mehr – mit den Enthüllungen über simulierte Angriffe vietnamesischer Schnellboote auf amerikanische Kriegsschiffe in der Tonkinbucht 1964, die zur Begründung des bereits zuvor geplanten Vietnamkrieges mit Millionen Toten bis 1973 dienten; dann mit dem in den USA bis auf den Tag genau orchestrierten Sturz der demokratisch gewählten Allende-Regierung in Chile mit zehntausenden Ermordeten, schließlich allgemein mit vermehrten Erkenntnissen über das weltweite Wirken des Auslandsgeheimdienstes CIA einschließlich der Beseitigung unliebsamer Regierungen und einzelner Führungspersonen.

Die von den Regierungen der NATO-Bündnispartner verschwiegenen oder bagatellisierten Erfahrungen erzeugten subkutan zunehmend kritische Lernprozesse – zunächst in den USA vor allem bei jüngeren Bevölkerungsgruppen im steigenden Widerstand gegen Einberufungen in einen als sinnlos empfundenen Krieg und den allgegenwärtigen, tagtäglich erlebten  Rassismus. Die inneramerikanischen Proteste zusammen mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt fanden hierzulande einen verstärkten Resonanzboden vor dem Hintergrund wachsender Auseinandersetzungen mit der deutschen faschistischen Vergangenheit und autoritären Konzepten wie der „formierten Gesellschaft“ in der Vorbereitung von Notstandsgesetzen.

Der ideologische Vorwurf vom linken Antiamerikanismus

Haben die herrschenden Kräfte nicht immer wieder die medial vervielfachte Mär vom Antiamerikanismus der Linken bis hin zur Generalabrechnung der AfD mit den rot-grün versifften 1968ern aufgetischt? Dagegen deckten linke Protagonisten den Widerspruch zwischen dem von ihnen überwiegend geteilten Freiheitsversprechen der amerikanischen Verfassungsväter und den antikommunistisch begründeten imperialistischen Interventionen in aller Welt wie im lateinamerikanischen „Hinterhof“ auf. Diese traten etwa seit den 1990er Jahren als „demokratisch“ legitimierte bei den Neokonservativen ungeschminkt auf die Bühne. In ihren Planspielen zur Neuordnung des Nahen Ostens stand der Zugriff auf die Ölressourcen im Mittelpunkt, sei es durch Bündnisse mit feudalen Herrschaftssystemen oder sei es durch die kriegerische Beseitigung modernisierungsorientierter Diktaturen. Im Fall des Irak mit dreist verbreiteten „Fake News“, die einen widerrechtlichen Besitz von Massenvernichtungswaffen unterstellten.

Nach diesem Muster ist seit geraumer Zeit wieder der Iran im Visier. Für das dortige Regime stellt der vom Irak von 1980 bis 1988 geführte Krieg mit seinem hohen Blutzoll bis heute eine traumatische Erfahrung dar. Die tätige Unterstützung der USA von Saddam Hussein ließ Erinnerungen an den 1953 erfolgten Sturz der demokratisch gewählten  Regierung unter Mohammad Mossadegh (1882-1967) durch eine Operation des CIA wieder wach werden. Abgesegnet vom britischen Premierminister Winston Churchill und dem amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower sollte die Nationalisierung der eigenen Öl-Ressourcen unterbunden und diese aus britischer Nutzung in amerikanische überführt werden. Bei derartigen Einmischungen à la carte wird heute in der Regel zumindest der Schein „humanitärer Interventionen“ gewahrt. Menschenrechtliche Begründungen spielen allerdings bei strategischen Partnern oder besten Freunden kaum eine Rolle, ob es sich um die seinerzeit zur „Achse des Bösen“ gehörige kommunistische Diktatur in Nordkorea oder arabische Regime auf der Basis des islamischen Rechts der Scharia wie in Saudi-Arabien handelt.

Der Sturz vom Traum in den Albtraum

Angesichts solch historischer Reflexionen dürfte es leichter verständlich sein, dass die gegenwärtige amerikanische Regierung sich schon wie die Bush-Regierungen neben dem traditionellen „militärisch-industriellen Komplex“ und den aufgebähten Sicherheitsapparaten vor allem auf Interessen der Ölindustrie und aggressive Fraktionen der Republikaner bis hin zu der von den Koch-Milliardären geförderten Tea-Party-Bewegung stützt. Dabei ist die Kombination innen- wie außenpolitischer Feinderklärungen in ihrem Ausmaß allerdings eine spezifische Signatur der Trump-Ära. Hier ergänzen sich in verhängnisvoller Weise die migrationspolitische Abwehr und der Rekurs auf das weiße Amerika. Beiden liegt eine klassenübergreifende Konstellation zugrunde: zwischen den erwähnten Gruppen des Big Business, sozial bedrohten Selbständigen und weißen Arbeitern vor allem in alten Industrieregionen („rust belt“) im Namen einer trügerischen nationalistischen Rückversicherung.

Angesichts der inneren Bruchlinien muss der Zusammenhalt durch neue und gesteigerte Feinderklärungen nach innen und außen aufrechterhalten werden. Hierdurch ist mit der wachsenden Kriegsrhetorik eine barbarische Gefahrenlage vorgezeichnet. Sie erfährt nach dem völkerrechtwidrigen Bruch des Atomabkommens mit dem Iran, seiner nicht legitimierten und sanktionsbewehrten wirtschaftspolitischen Strangulierung sowie der Ermordung des iranischen Generals Quassem Soleimani eine Zuspitzung. Diese kann auf einen Krieg als bereits mehrfach von Denkfabriken („Thing Tanks“) erwogenes Vorspiel zu einer finalen Auseinandersetzung mit dem aufstrebenden China zutreiben. So verdunkelt sich noch mehr die nur halbherzig betriebene Perspektive Obamas: die beschworene Einlösung des amerikanischen Traums eines Martin Luther King und sozial-ökonomisch die zwar propagierte, aber nicht geleistete Anknüpfung an den New Deal (1933-1938) unter Franklin D. Roosevelt (1882-1945).

Und Lichter am Ende des Tunnels?

Angesichts dieser bedrohlichen Situation frage ich mich, welche gesellschaftlichen Aktivitäten eine Renaissance des sozialen Ausgleichs und wechselseitigen Respekts im Innern wie nach außen erschließen können? Stand hierfür nicht vor wenigen Jahren Bernie Sanders, der beinahe demokratischer Präsidentschaftskandidat wurde, mit seiner wahlkampferprobten jugendlichen Graswurzelbewegung („grass-roots movement“)? Wird die einst zutage getretene Solidarität nunmehr verschlissen in den Abwehrkämpfen gegen sozialdarwinistische Verhaltensweisen und Handlungsformen, die das Recht des Stärkeren ohne Wenn und Aber praktizieren? Wie lassen sich Widerstände hiergegen von lokalen und regionalen Basisaktivitäten über die kulturellen, ethnischen und sozialen Akteure, insbesondere die Gewerkschafts- Umwelt- und Frauenbewegungen, bis zu einigen Leitmedien und politischen Gruppen zu einer tragfähigen Alternative bündeln, die zugleich kriegerische Entladungen innen- und außenpolitischer Spannungszustände eindämmen könnte?

Auch wenn das Scheitern der Amtsenthebung des Präsidenten Trump angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Kongress abzusehen ist, machen die Beweggründe des Verfahrens eine zutiefst rechtsverachtende, die Gesellschaft spaltende und demokratiefeindliche Politik der gegenwärtigen amerikanischen Regierung sichtbar. Dass hierbei die berühmten „Checks and Balances“ einer vormals relativ intakten Gewaltenteilung insbesondere im Falle inszenierter kriegerischer Verwicklungen außer Kraft gesetzt werden könnten, scheint von den hierdurch ebenfalls betroffenen Bündnispartnern noch nicht ausreichend begriffen und daher auch nicht zum Widerstand zu motivieren. Gerade in Deutschland wie auch in der EU insgesamt scheint die buchstäbliche Angst des Kaninchens vor der Schlange vorherrschend. Unsere gewählten politischen Repräsentanten scheinen in einer Angststarre zu verharren, die sie allzu häufig mit mahnenden Worten wie bei den drängenden Klima-, Armuts- und Migrationsfragen kaschieren. Sind trotz jeweiliger Gründe hierfür demokratische Kräfte nicht in steigendem Maße transnational gefordert, sich wechselseitig unterstützend auf gebotene Gegenwehr und konkrete Alternativen zu verständigen?

Paul  am 19.01.2020

Paul Oehlke ist Sozialwissenschaftler. Er gehört der Kölner LINKEN sowie dem Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW an.

– Namentliche gezeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Kölner LINKEN oder der Redaktion wieder. –