Zur gesellschaftlichen Realitätsmächtigkeit der Corona-Virus-Pandemie

Pauls Post

Der sich von Wuhan in China seit etwa Mitte November 2019 ausbreitende Corona-Virus hat Deutschland im Griff – weniger in der Realität als in der großen Politik und im Bewusstsein der Bevölkerung. Natürlich ist eine besondere Gefährdung der Älteren, Vorerkrankten, Unbedenklichen nicht zu leugnen. Der weltweit dramatische Anstieg der Infizierten und Toten – zunächst in China, dann auch in Italien, im Iran, in Südkorea und geringer in weiteren Ländern wie in Spanien, Frankreich und Deutschland, wenn auch mit steigender Tendenz – ist nicht zu leugnen. Es handelt sich um eine von Mensch zu Mensch übertragene Pandemie wie die außerordentlichen Influenza-Pandemien  von der Spanischen Grippe 1918-1920 mit über 20-50 Millionen Toten oder die Hongkong-Grippe 1968 mit 1-4 Millionen Toten. Es handelt sich um Länder und Kontinente übergreifende Infektionskrankheiten, die von der Generaldirektion der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgerufen werden.

Schrittweise öffentliche Reaktionen

Da es noch keine Impfstoffe gibt, schossen die Spekulationen über die pandemische Entwicklung hierzulande ins Kraut. Zögerlich ergriffen zunächst einzelne Bundesländer – infolge der föderalen Struktur – einzelne, jedoch nicht abgestimmte Maßnahmen, bis unter dem Druck des Anstiegs der Krankheits- und Todesfälle in China, dann vor allem in Italien viel zu spät koordinierende Aktivitäten im Bund erfolgten. Schließlich wurden größere Sport-, Vergnügungs- und Kulturveranstaltungen abgesagt, Schulen und Kindertagesstätten in einigen Bundesländern, schließlich bundesweit geschlossen, mittlerweile auch weitgehend Restaurants und Geschäfte. Und wenn auch noch Sozialkontakte möglichst gemieden werden sollen, dann kommt das zivile Leben mehr oder weniger zum Erliegen – ganz zu schweigen von den wirtschaftlichen Folgen für prekär Beschäftigte und kleinere Betriebe.

Mediale Berichterstattung auf Seitenwegen

Auffallend ist freilich, dass die mediale Berichterstattung über den Corona-Virus längst ausgeufert ist. Stellungnahmen vom Robert-Koch-Institut, der zentralen Einrichtung der Bundesregierung auf dem Gebiet der Überwachung von Krankheitsverläufen und möglicher Präventionsmaßnahmen, wechseln sich mit Politikerinterviews und mit Sportverantwortlichen über die Absage von Veranstaltungen ab. Dabei geriet zu einer Haupt- und Staatsaktion die Frage, ob die Bundesligaspiele weitergeführt, Geisterspiele ohne Zuschauer abgehalten werden sollten oder der Betrieb ganz und gar einzustellen sei. In dieser Kakophonie hat das Für und Wider der Schließung von Kitas und Schulen inzwischen einen wichtigen Stellenwert bekommen – auch wegen Arbeitsausfällen von Eltern. Klagen über wirtschaftliche Beeinträchtigungen entsprechen Zusicherungen von Unterstützungsleistungen der öffentlichen Hände in vielfacher Milliardenhöhe.

Außenpolitische Problemlagen im Abseits

Angesichts der nationalen Problemlagen drohen außenpolitische in den Hintergrund des öffentlichen Bewusstseins zu rücken: etwa die ungelösten Fragen der Migration an der griechisch-türkischen Grenze, die militärischen Abwehrmaßnahmen jenseits völkerrechtlicher Gebote oder humaner Erwägungen der Menschlichkeit – weiterhin die unsäglichen Missstände, das Leid der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln und in Syrien selbst. Ganz zu schweigen von den nach wie vor ungelösten umweltpolitischen und klimainduzierten Gefährdungen, die ob ihres langfristigen Mahlwerks immer wieder aus dem Blick geraten. Fridays for Future hat gewissermaßen Ferien. Auffällt das gewaltige Missverhältnis zwischen den vergleichsweise geringen Aufwendungen für bereits Klimageschädigte und die Millionen Flüchtenden in unterschiedlichen Regionen der Welt und – vergleichbar der ebenfalls globalen Finanzkrise ab 2007 – den erwogenen Ausgaben in den Epizentren der Pandemie China, Europa und den USA. Letztere wiederum widerstreben jeglicher internationaler Kooperation, sondern versuchen auf Kosten anderer die lukrative Entwicklung von Impfstoffen etwa durch die Übernahme eines deutschen Herstellers zu monopolisieren.

Der makabre deutsche Exportstopp

Aber Deutschland und die EU sind gehalten, vor der eigenen Haustür zu kehren. So beginnen einzelne Länder ohne jegliche Absprache ihre Grenzen zu schließen, während die EU infolge ihrer institutionellen Blockaden zwischen Parlament, Kommission und Rat wie der hegemonialen Stellung Deutschlands nur begrenzt handlungsfähig erscheint. Umso makabre Wirkung dürfte der deutsche Exportstopp für Schutzausrüstungen innerhalb der EU entfalten. Forderungen des zuständigen EU-Kommissars für humanitäre Hilfe und Krisenschutz nach seiner Aufhebung wurden brüsk wegen Eigenbedarfs vom Bundesgesundheitsminister zurückgewiesen. Folgsam hat dann die Kommission ihrerseits ein Ausfuhrverbot an Nicht-EU-Staaten erlassen. So blieben Italiens Hilferufe angesichts der hier rasant steigenden Infektionen und Todesfälle unerhört, bis schließlich China am 12. März ein Expertenteam mit 31 Tonnen Hilfsgütern lieferte und daraufhin Deutschland sich verpflichtet fühlte, eine Million Atemschutzmasken wenigstens in Aussicht zu stellen (German-Foreign-Policy.com vom 17.03.2020; siehe entsprechenden Kommentar abends im DLF).

Schwachstellen eines privatisierten Gesundheitssystems

Die US-amerikanische Führung hatte zunächst die Pandemie heruntergespielt, setzte sich dann aber selbstherrlich in Gestalt des Präsidenten mit der Ausrufung des nationalen Notstands an die Spitze des Zuges, immer nach der Devise: „If you can‘t beat them, join them.” Doch die unzureichende Gesundheitsversorgung mit etwa 30 Millionen nicht und noch mehr gering Versicherten dürfte bei einer weiteren Ausbreitung der Pandemie in den USA erhebliche Probleme mit sich bringen. Dies gilt ebenfalls für einige europäische Länder insbesondere Großbritannien mit einem herunter gesparten „National Health Service“ (Nationaler Gesundheitsdienst). Auch die Privatisierungstendenzen im deutschen Gesundheitssystem markieren einen eklatanten Widerspruch zu nötigen Kapazitäten für Krisenfälle mit erforderlichen Notfallstrukturen. Solch einer Elastizität der Gesundheitsversorgung steht eine privatwirtschaftliche Ausrichtung am zu erzielenden Profit ebenso entgegen wie öffentliche Sparrunden für kommunale Gesundheitsämter, die Schließung von Krankenhäusern vor allem in ländlichen Regionen, die chronische Unterversorgung an Pflegekräften und offenkundig selbst an medizinischen Wirkstoffen und Materialien. Es gilt den privatwirtschaftlichen Rückbau im Gesundheitssystem in öffentlicher Hand umzukehren – mit wesentlich höherem Personalbestand zu besseren Arbeits- und Entgeltbedingungen einschließlich des hier besonders nötigen Gesundheitsschutzes. Nicht morgen, sondern heute!

Maßnahmen zum sozialen und wirtschaftlichen Ausgleich

Aus den Reihen der Linken kommen Vorschläge zur Liquiditätssicherung besonders verwundbarer Bevölkerungsgruppen wie von Armut betroffener Rentner*innen und Hartz-IV-Empfänger*innen durch Zuschläge auf alle Sozialleistungen und Aussetzung der Vermögensprüfung bei der Beantragung von Grundsicherungen wie auch von Zwangsräumungen für Wohnungslose und Heimunterbringungen für Schutzsuchende. Gerade die Geflüchteten werden in den Ankerzentren ohne eigene Kochmöglichkeiten erhöhten Infektionsgefährdungen in Massenunterkünften und bei Massenspeisungen ausgesetzt. Soziale Garantien und kurzfristig Hilfen wie zinsfreie Notkredite und Steuerstundungen sind für kleinere Unternehmen, Handwerksbetriebe, Soloselbstständige, Tätige in der Kreativwirtschaft oder den nicht fest angestellten Kulturschaffenden zu erbringen. Hier zeichnen sich aus der Krise geborene Impulse für erweitertes sozialstaatliches Handeln ab, das sozial-ökologisches Wirtschaften in unterschiedlichen Eigentumsformen stützen kann. Es bedarf weitaus mehr eines beschäftigungsförderlichen Investitionspaketes ohne Schuldenbremse und „schwarze Null“ als Steuererleichterungen durch die Bundesregierung und Bankenhilfen durch die EZB.

Gelebter sozialer Zusammenhalt als Gebot der Stunde

Über nötige öffentliche Leistungen hinaus ist mehr denn je ein solidarisches Miteinander erforderlich. Allgemeine Achtsamkeit für einander über Parteigrenzen hinweg ist gefragt als Kontrapunkt zur vielfach praktizierten Ellbogenmentalität wie einem alltäglichen Egoismus etwa in widersinnigen Hamsterkäufen. Vernünftiges individuelles Handeln steht nicht im Widerspruch zu gesellschaftlicher Solidarität. Und beide stellen zugleich eine demokratische Bewährungsprobe dar, die gerade ein Markenzeichen für linke Kräfte im Verein mit anderen werden sollte. Mit konkreten Hilfestellungen vor Ort und in der Region, erweiterten Kommunikations- und konkreten Kooperationsmöglichkeiten entstehen zugleich sich vernetzende Schubkräfte für einen breit aufgestellten öffentlichen Sektor. Eine entsprechend von unten fundierte politische Alternative dürfte mit dem Ausbau jahrzehntelang vernachlässigter Infrastrukturen von Regionalentwicklung, ÖPNV und Energiewende bis zu Wohnen, Gesundheit und Bildung einen gesellschaftlich getragenen Ausweg aus den sich bereits abzeichnenden finanzwirtschaftlichen Krisentendenzen eröffnen.

Paul  am 19.03.2020

Paul Oehlke ist Sozialwissenschaftler. Er gehört der Kölner LINKEN sowie dem Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW an.

– Namentliche gezeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Kölner LINKEN oder der Redaktion wieder. –