Die Pariser Kommune als mögliche Alternative
Vor 150 Jahren ergriff die Arbeiterklasse von Paris demokratisch die Macht und zeigte: Es geht! Die folgende Konterrevolution der von Preußen unterstützten konservativen Kräfte in Frankreich war schrecklich. Doch die Realität gewordene Idee blieb: Es geht! Die Arbeiterklasse kann regieren!
Wir übernehmen hier einen Artikel von Marcello Musto aus der Zeitschrift “Sozialismus”, die unserer Partei nahe steht. Wir danken Autor, Redaktion und Verlag für die freundliche Erlaubnis und revanchieren uns mit einer Empfehlung der stets lesenswerten Zeitschrift am Ende des Artikels.
Die Bourgeoisie Frankreichs ist immer mit allem davongekommen. Seit der Revolution von 1789 war sie die einzige, die in Zeiten der Prosperität reich wurden, während die Arbeiterklasse regelmäßig die Hauptlast der anfälligen Krisen zu tragen hatte. Doch die Ausrufung der Dritten Republik eröffnete neue Horizonte und bot eine Chance für einen Richtungswechsel. Napoleon III. wurde nach der Niederlage der französischen Truppen in der Schlacht bei Sedan am 4. September 1870 von den preußischen Truppen gefangen genommen. Im darauffolgenden Januar, nach einer viermonatigen Belagerung von Paris, erreichte Otto von Bismarck die Kapitulation der Franzosen und konnte im Zuge der Verhandlungen über einen Waffenstillstand harte Bedingungen durchsetzen. In Frankreich fanden Wahlen statt und Adolphe Thiers wurde, unterstützt von einer großen Mehrheit der Legitimisten und Orleanisten im Parlament, zum »Chef der Exekutive« ernannt. In der Hauptstadt Paris jedoch, wo die Unzufriedenheit der Bevölkerung größer war als anderswo, gewannen radikale republikanische und sozialistische Kräfte die Oberhand. Die Aussicht auf eine rechte Regierung, die die sozialen Ungerechtigkeiten beibehalten, die Last des Krieges auf die ärmeren Klassen abwälzen und die Stadt Paris entwaffnen wollte, löste am 18. März eine Revolution aus. Thiers und seine Armee hatten keine andere Wahl, als sich nach Versailles zurückzuziehen.
Der Kampf und die Regierung
Um sich eine demokratische Legitimation zu sichern, beschlossen die Aufständischen, sofort freie Wahlen abzuhalten. Am 26. März billigte eine überwältigende Mehrheit (190.000 Stimmen gegen 40.000) den Aufstand, und 70 der 85 gewählten Abgeordneten erklärten ihre Unterstützung für die Revolution. Die 15 gemäßigten Vertreter der parti des maires, einer Gruppe, die sich aus den ehemaligen Chefs bestimmter Stadtteile zusammensetzte, traten sofort zurück und nahmen nicht am Rat der Kommune teil; ihnen schlossen sich kurz darauf vier Radikale an. Die verbleibenden 66 Mitglieder – wegen der doppelten politischen Zugehörigkeit nicht immer leicht zu unterscheiden – repräsentierten ein breites Spektrum von Positionen. Unter ihnen waren etwa 20 neojakobinische Republikaner (darunter die bekannten Charles Delescluze und Félix Pyat), ein Dutzend Anhänger von Auguste Blanqui, 17 Mitglieder der Internationalen Arbeiterassoziation (sowohl mutualistische Parteigänger von Pierre-Joseph Proudhon als auch Kollektivisten, die mit Karl Marx verbunden waren, und oft miteinander im Streit lagen) und ein paar Unabhängige. Die meisten Führer der Kommune waren Arbeiter oder anerkannte Vertreter der Arbeiterklasse, 14 stammten aus der Nationalgarde. Tatsächlich war es das Zentralkomitee der Nationalgarde, das die Macht in die Hände der Kommune legte. Dies war, wie sich herausstellte, das Vorspiel zu einer langen Reihe von Unstimmigkeiten und Konflikten zwischen den beiden Gremien.
Am 28. März versammelte sich eine große Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern in der Nähe des Hôtel de Ville, um die neue Versammlung, die nun offiziell den Namen Pariser Kommune trug, zu feiern. Obwohl sie nicht länger als 72 Tage Bestand haben sollte, war die Pariser Kommune das wichtigste politische Ereignis in der Geschichte der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts. Sie gab der von monatelangen Entbehrungen erschöpften Bevölkerung neue Hoffnung. In den Vierteln von Paris bildeten sich Komitees und Gruppen, die die Kommune unterstützten, und an jeder Ecke der Metropole gab es Initiativen, um Solidarität mit der Kommune zu bekunden und den Aufbau einer neuen Welt zu planen. Montmartre wurde »Zitadelle der Freiheit« getauft. Weit verbreitet war der Wunsch, mit anderen zu teilen. Militante wie Louise Michel verkörperten den Geist der Selbstverleugnung. Victor Hugo schrieb über sie: Sie »tat, was große wilde Seelen tun. (…) Sie verherrlichte die Geschlagenen und Geknechteten.« Aber es war nicht der Impuls eines Führers oder einer Handvoll charismatischer Personen, der die Kommune ins Leben rief. Sie war ein kollektives Ereignis. Frauen und Männer schlossen sich freiwillig zusammen, um ein gemeinsames Projekt der Befreiung zu verfolgen. Die Selbstverwaltung wurde nicht als Utopie gesehen und die Befreiung aus eigener Kraft stand im Zentrum.
Die Transformation der politischen Macht
Zwei der ersten Notverordnungen, die die grassierende Armut eindämmen sollten, waren das Einfrieren der Mietzahlungen und das Verbot des Verkaufs von Gegenständen im Wert von unter 20 Franken in Pfandhäusern. Zur Begründung hieße es, dass »das Eigentum seinen gerechten Anteil an Opfern bringen solle«. Neun Kommissionen auf kollegialer Basis ersetzten die Ministerien für Krieg, Finanzen, allgemeine Sicherheit, Bildung, Subsistenz, Arbeit und Handel, Außenbeziehungen und öffentlichen Dienst. Wenig später wurde für jedes dieser Ressorts ein Delegierter der Kommune als Leiter ernannt.
Am 19. April, drei Tage nach Wahlen zur Besetzung von 31 Sitzen der Kommune, die frei geworden waren, verabschiedete die Kommune eine Erklärung an das französische Volk. Diese
Erklärung enthielt die »absolute Garantie der individuellen Freiheit, der Gewissensfreiheit und der Freiheit der Arbeit«. Den Bürgerinnen und Bürgern wurde das Recht auf »die ständige Einmischung in die kommunalen Angelegenheiten« gesichert. Der Konflikt zwischen Paris und Versailles, so wurde in der Erklärung bekräftigt, »kann nicht durch illusorische Kompromisse beendet werden«. Das Volk habe das Recht und die »Pflicht zu kämpfen und zu siegen!« Noch bedeutsamer als dieser Text – eine etwas ambivalente Synthese, um Spannungen zwischen den verschiedenen politischen Strömungen zu vermeiden – waren die konkreten Aktionen, mit denen die Kommunarden für eine grundlegende Umgestaltung der politischen Ordnung kämpften. Eine Reihe von Reformen betraf nicht nur einzelne Verfahrensweisen, sondern das eigentliche Wesen der politischen Verwaltung. Die Kommune sah die Abberufung gewählter Abgeordneter und die Kontrolle ihrer Handlungen durch imperative Mandate vor, auch wenn dies keineswegs ausreichte, um die komplexe Frage der politischen Repräsentation zu regeln. Magistrate und andere öffentliche Ämter, die alle einer ständigen Kontrolle und der möglichen Abberufung der gewählten Vertreter unterlagen, sollten nicht wie bisher willkürlich vergeben, sondern auf der Basis eines offenen Wettbewerbs oder durch Wahlen entschieden werden. Damit sollte verhindert werden, dass der öffentliche Raum zur Domäne von Berufspolitikern wird. Politische Entscheidungen dürften nicht kleinen Gruppen von Funktionären und Technikern überlassen, sondern müssten vom Volk getroffen werden. Armee und Polizeikräfte sollten keine von der Gesellschaft abgetrennten Institutionen mehr sein. Es wurde die strikte Trennung von Staat und Kirche verfügt.
Die Vision des politischen Wandels beschränkte sich jedoch nicht auf die genannten Maßnahmen, sondern ging weit tiefer und war radikaler. Die Übertragung der Macht in die Hände des Volkes war notwendig, um die Bürokratie drastisch zu reduzieren. Die soziale Sphäre sollte Vorrang vor der politischen haben – wie schon Henri de Saint-Simon gefordert hatte. Politik sollte aufhören, eine spezialisierte Aufgabe zu sein, sondern schrittweise in die Aktivität der Zivilgesellschaft selbst inte griert werden. Die Gesellschaft würde damit Funktionen zurückerobern, die an den Staat übertragen worden waren. Ziel war es, nicht nur das bestehende System von Klassenherrschaft zu stürzen, sondern auch das Ende der Klassenherrschaft als solcher herbeizuführen. All dies hätte die Vision der Kommune von der Republik als Zusammenschluss freier, wahrhaft demokratischer Assoziationen erfüllt, die die Emanzipation aller ihrer Teile fördert. Es ging darum, die Selbstverwaltung der Produzenten herbeizuführen.
Die Priorität der Sozialreformen
Die Kommune war der Meinung, dass soziale Reformen noch entscheidender waren als politische Veränderungen. Sie sah in diesen Reformen ihre eigentliche Daseinsberechtigung, den Maßstab der Treue zu ihren Gründungsprinzipien und das, was sie grundsätzlich von den vorangegangenen Revolutionen von 1789 und 1848 unterschied.
Die Kommune verabschiedete eine ganze Reihe von Maßnahmen, die einen klaren Klassencharakter trugen. Die Fristen für die Rückzahlung von Schulden wurden um drei Jahre verlängert, ohne dass dabei zusätzliche Zinsen hätten gezahlt werden müssen. Zwangsräumungen wegen ausstehender Mietzahlungen wurden ausgesetzt, und ein Dekret erlaubte die Beschlagnahmung von leerstehenden Wohnungen für Obdachlose. Es gab Pläne, den Arbeitstag von zehn auf acht Stunden zu verkürzen. Die weitverbreitete Praxis, den Arbeitern fiktive Bußgelder aufzuerlegen, nur um den Lohn zu drücken, wurde unter Androhung von Strafen verboten, und die Mindestlöhne wurden auf ein Niveau erhöht, das ein würdiges Leben ermöglichen sollte. Es wurde so viel wie möglich getan, um die Versorgung der Bevölkerung von Paris mit Lebensmitteln zu steigern und die Preise zu senken. Die Nachtarbeit in Bäckereien wurde verboten und eine Reihe von städtischen Fleischläden eröffnet. Soziale Hilfen verschiedener Art wurden auf sozial schwächere Bevölkerungsgruppen ausgedehnt. So gab es zum Beispiel Lebensmitteltafeln für alleinstehende Frauen und Kinder. Zudem wurde diskutiert, wie die Diskriminierung von un-
ehelichen gegenüber in der Ehe geborenen Kindern beendet werden könne.
Die Pariser Kommunarden gingen davon aus, dass Bildung ein wesentlicher Faktor für die individuelle Emanzipation und Bedingung für jede ernsthafte soziale und politische Veränderung sei. Der Schulbesuch sollte sowohl für Mädchen als auch für Jungen kostenlos und verpflichtend werden, wobei der Religionsunterricht einem weltlichen Unterricht nach rationalen, wissenschaftlichen Grundsätzen weichen sollte. Speziell eingesetzte Kommissionen und die Presse lieferten viele überzeugende Argumente für Investitionen in die Bildung von Frauen. Damit das Bildungssystem zu einem wahrhaft »öffentlichen Dienst« werden könne, müsse die Bildung »Kindern beiderlei Geschlechts« gleiche Chancen bieten.
Außerdem sollten »Unterscheidungen aufgrund von Rasse, Nationalität, Religion oder sozialer Stellung« verboten werden. Erste praktische Initiativen begleiteten solche Proklamationen, und in mehr als einem Stadtteil betraten Tausende von Arbeiterkindern zum ersten Mal ein Schulgebäude und erhielten kostenloses Unterrichtsmaterial.
Die Kommune ergriff Maßnahmen mit sozialistischem Charakter. Sie verfügte, dass Werkstätten, die von aus der Stadt geflohenen Arbeitgebern aufgegeben worden waren, an Genossenschaften der Arbeiter übergeben werden. Im Falle, dass die früheren Eigentümer zurückkehrten, sollten sie entschädigt werden. Die Theater und Museen wurden für alle unentgeltlich zugänglich und dem Verband der Pariser Künstler unterstellt, dem der Maler und unermüdliche Kämpfer Gustave Courbet vorstand. Sie sollten durch diesen Verband kollektiv verwaltet werden. Diesem Gremium gehörten etwa 300 Bildhauer, Architekten, Lithographen und Maler (darunter Édouard Manet) an. Das Beispiel wurde durch die Gründung einer »Künstlervereinigung« aufgegriffen, zu dem sich Schauspieler und Personen aus der Opernwelt zusammenschlossen.
All diese Maßnahmen und Bestimmungen wurden in der erstaunlichen Zeitspanne von nur 54 Tagen eingeführt, und dies in einer Stadt, die noch unter den Auswirkungen des Deutsch-Französischen Krieges litt. Die Kommune konnte ihre Arbeit nur zwischen dem 29. März und dem 21. Mai verrichten, während sie zugleich einen heldenhaften Widerstand gegen die Angriffe der Truppen aus Versailles leistete, ein Widerstand, der enorme menschliche Energie und große finanzielle Mittel erforderte. Da der Kommune keine Zwangsmittel zur Verfügung standen, wurden viele ihrer Dekrete im weiten Stadtgebiet nicht einheitlich durchgesetzt. Sie waren durch den Drang zur Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt und wiesen den Weg zu weiteren möglichen Veränderungen.
Kollektiver und feministischer Kampf
Die Kommune umfasste viel mehr als die von ihrer gesetzgebenden Versammlung beschlossenen Aktionen. Sie strebte danach, den städtischen Raum neu zu gestalten, wie der Beschluss zum Abriss der Säule von Vendôme zeigte, die als Monument der Barbarei und verwerfliches Symbol des Krieges galt. Es wurde die Säkularisierung einer Reihe von Kirchen verfügt, indem sie der Nutzung durch die Gemeinden überlassen wurden. Wenn es der Kommune gelang, unter den sehr angespannten Bedingungen durchzuhalten, dann dank einer außergewöhnlichen Massenbeteiligung und einem ausgeprägten Geist gegenseitiger Hilfe. Eine besondere Rolle spielten die revolutionären Klubs, die in fast jedem Bezirk von Paris entstanden. Es gab mindestens 28 von ihnen. Sie stellten eines der bemerkenswertesten Beispiele für die spontane Mobilisierung von unten dar. Jeden Abend geöffnet, boten sie den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit, sich nach der Arbeit zu treffen, um frei über die soziale und politische Situation zu diskutieren, zu überprüfen, was ihre Vertreter erreicht hatten, und alternative Wege zur Lösung der alltäglichen Probleme vorzuschlagen. Es waren Basisvereinigungen, die die Bildung und den Ausdruck von Volkssouveränität sowie die Schaffung echter Räume der Schwesternschaft und Brüderlichkeit begünstigten. Hier konnten jede und jeder die begeisternde Erfahrung gewinnen, was es heißt, Kontrolle über das eigene Schicksal zu gewinnen.
Der emanzipatorische Weg der Kommune hatte keinen Platz für nationale Diskriminierung. Die Bürgerschaft der Kommune erstreckte sich auf alle, die sich für ihre Entwicklung einsetzten. Ausländer genossen die gleichen sozialen Rechte wie Franzosen. Das Prinzip der Gleichheit zeigte sich in der prominenten Rolle, die die 3.000 in der Kommune aktiven Ausländer spielten. Leo Frankel, ein ungarisches Mitglied der International Working Men’s Association, wurde nicht nur in den Rat der Kommune gewählt, sondern diente ihr als »Arbeitsminister« – eine ihrer Schlüsselpositionen. Die Polen Jaroslaw Dombrowski und Wa-lery Wroblewski standen als angesehene Generäle an der Spitze der Nationalgarde.
Frauen spielten, obwohl sie noch kein Wahlrecht erhalten hatten und auch nicht im Rat der Kommune sitzen durften, eine wesentliche Rolle. Sie formulierten wichtige Positionen der Kritik an der Gesellschaftsordnung. In vielen Fällen überschritten sie die Normen der bürgerlichen Gesellschaft und behaupteten eine neue Identität in Opposition zu den Werten der patriarchalen Familie, indem sie sich über die häusliche Privatsphäre hinaus in die öffentliche Sphäre einbrachten. Die Frauenunion zur Verteidigung von Paris und zur Versorgung der Verwundeten, deren Entstehung maßgeblich der unermüdlichen Aktivität des Mitglieds der Ersten Internationale, Elisabeth Dmitrieff, zu verdanken war, spielte eine wesentliche Rolle dabei, die wichtigsten sozialen Kämpfe zu identifizieren. Frauen erreichten die Schließung von Bordellen, erkämpften die Gleichstellung von Lehrerinnen und Lehrern, prägten die Parole »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«, forderten Gleichberechtigung in der Ehe und die Anerkennung freier Gewerkschaften. Sie setzten sich für ausschließlich weibliche Kammern in den Gewerkschaften ein.
Als sich Mitte Mai die militärische Lage zuspitzte und die Truppen von Versailles vor den Toren von Paris standen, griffen die Frauen zu den Waffen und bildeten ein eigenes Bataillon. Viele kamen bei den Kämpfen auf den Barrikaden um. Die bürgerliche Propaganda setzte sie den bösartigsten Angriffen aus, nannte sie les pétroleuses und beschuldigte sie, während der Straßenkämpfe die Stadt in Brand gesteckt zu haben.
Zentralisieren oder dezentralisieren?
Die Kommunarden strebten danach, eine wahre Demokratie zu errichten. Dies war ein ehrgeiziges und schwieriges Projekt. Die Volkssouveränität erforderte die Beteiligung der größtmöglichen Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern. Ab Ende März schossen in Paris verschiedenste demokratische Strukturen wie Pilze aus dem Boden: zentrale Kommissionen, lokale Unterausschüsse, revolutionäre Clubs und Soldatenbataillone. Sie flankierten das ohnehin schon komplexe Duopol von Rat der Kommune und Zentralkomitee der Nationalgarde. Das Zentralkomitee der Nationalgarde von Paris hatte die militärische Kontrolle behalten und agierte oft als veritable Gegenmacht zum Rat. Obwohl die direkte Beteiligung der Bevölkerung eine wichtige Garantie für die Demokratie war, erschwerte die Vielzahl der beteiligten Instanzen die Entscheidungsprozesse und machte die Umsetzung der Dekrete der Kommune zu einer langwierigen Angelegenheit.
Das Problem des Verhältnisses zwischen der Zentralgewalt und den lokalen Gremien führte zu einer Reihe von chaotischen, zeitweise auch lähmenden Situationen. Das empfindliche Gleichgewicht geriet völlig aus den Fugen, als Jules Miot angesichts des Kriegsnotstands, der Disziplinlosigkeit innerhalb der Nationalgarde und der zunehmenden Ineffizienz der Regierung die Schaffung eines fünfköpfigen Komitees für öffentliche Sicherheit vorschlug. Als Vorbild galt ihm das diktatorische Modell des Wohlfahrtsausschusses unter Vorsitz von Maximilien Robespierre im Jahr 1793. Der Vorschlag wurde am 1. Mai mit einer Mehrheit von 45 zu 23 Stimmen angenommen. Dies erwies sich als dramatischer Fehler, der den Anfang vom Ende des neuartigen politischen Experiments markierte und die Kommune in zwei gegnerische Blöcke spaltete. Der erste Block, der sich aus Neojakobinern und Blanquisten zusammensetzte, neigte zur Machtkonzentration und letztlich zum Primat des Politischen über das Soziale. Der zweite Block, zu dem die Mehrheit der Mitglieder der Internationalen Arbeiter-Assoziation gehörte, bestand auf dem Vorrang der sozialen Sphäre gegenüber der politischen. Seine Vertreter hielten eine Gewaltenteilung für notwendig und bestanden darauf, dass die Republik niemals die politischen Freiheiten infrage stellen dürfe. Koordiniert von dem unermüdlichen Eugène Varlin, lehnten sie den autoritären Kurs scharf ab und beteiligte sich nicht an den Wahlen zum Komitee für öffentliche Sicherheit. Nach ihrer Auffassung würde die Zentralisierung der Macht in den Händen einiger weniger Personen den Gründungspostulaten der Kommune eklatant widersprechen. Die ihnen angehörigen Vertreter würden nicht über die Rechte des Souveräns verfügen. Diese Souveränität gehöre dem Volk, und dieses hätte kein Recht, sie an ein bestimmtes Organ abzutreten. Als die Minderheit am 21. Mai wieder an einer Sitzung des Rates der Kommune teilnahm, wurde ein neuer Versuch unternommen, Einigkeit in ihren Reihen herzustellen. Aber es war bereits zu spät.
Die Kommune als Synonym für Revolution
Die Pariser Kommune wurde von den Armeen der Versailler Regierung brutal niedergeschlagen. Während der semaine sanglante, der Blutwoche zwischen dem 21. und 28. Mai, wurden insgesamt 17.000 bis 25.000 Bürgerinnen und Bürger abgeschlachtet. Die letzten Kampfhandlungen fanden entlang der Mauern des Friedhofs Père Lachaise statt. Der junge Arthur Rimbaud beschrieb die französische Hauptstadt als »eine trauernde, fast tote Stadt«. Es war das blutigste Massaker in der Geschichte Frankreichs. Nur 6.000 gelang die Flucht ins Exil nach England, Belgien und in die Schweiz. Die Zahl der Gefangenen betrug über 43.000. Hundert von ihnen wurden nach Schnellverfahren vor Kriegsgerichten hingerichtet, weitere 13.500 wurden zu Gefängnis oder Zwangsarbeit verurteilt oder in entlegene Gebiete wie Neukaledonien deportiert. Einige solidarisierten sich mit den algerischen Anführern des antikolonialen Mokrani-Aufstands, der zur gleichen Zeit wie die Kommune ausgebrochen war und von französischen Truppen gleichfalls blutig niedergeschlagen wurde. Sie teilten das Schicksal der Aufständischen in der Kolonie.
Das Gespenst der Kommune verschärfte die antisozialistische Repression in ganz Europa. Die konservative und liberale Presse überging die beispiellose Gewalt des Thiers-Staates, beschuldigte die Kommunarden der schlimmsten Verbrechen und drückte große Erleichterung über die Wiederherstellung der »natürlichen Ordnung« und der bürgerlichen Legalität sowie Zufriedenheit über den Triumph der »Zivilisation« über die Anarchie aus. Diejenigen, die es gewagt hatten, die herrschende Autorität zu verletzen und die Privilegien der herrschenden Klasse anzugreifen, wurden auf exemplarische Weise bestraft. Frauen wurden wieder als minderwertig behandelt, und Arbeiter mit schwieligen Händen, die sich dreist angemaßt hatten, zu regieren, sollten nun wieder das tun, was die Herrschenden als deren wahre Pflichten ansahen.
Und doch gab der Aufstand in Paris den Kämpfen der Arbeiter Kraft und drängte sie in radikalere Richtungen. Am Morgen nach der Niederlage schrieb Eugène Pottier das, was zur berühmtesten Hymne der Arbeiterbewegung werden sollte: »Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.« Paris hatte gezeigt, dass es darauf ankommt, eine vom Kapitalismus radikal verschiedene Gesellschaft aufzubauen. Auch wenn auf den kurzen Frühling der Kommune für ihre Kämpferinnen und Kämpfer keine »Zeit der Kirschen« (so der Titel eines berühmten Verses des Kom-munarden Jean-Baptiste Clément) folgte, verkörperte die Kommune fortan die Idee der sozialpolitischen Umgestaltung und ihrer praktischen Umsetzung. Sie wurde zum Synonym für den Begriff der Revolution selbst, für eine ontologische Erfahrung der Arbeiterklasse. In »Der Bürgerkrieg in Frankreich« stellte Karl Marx fest, dass die Pariser Arbeiter zur »Vorhut des ganzen modernen Proletariats« geworden seien. Die Pariser Kommune veränderte das Bewusstsein der Arbeiterinnen und Arbeiter und ihre kollektive Wahrnehmung. Mit einem Abstand von 150 Jahren weht die rote Fahne der Pariser Kommune auch heute noch und erinnert uns daran, dass eine Alternative immer möglich ist. Vive la Commune!
Marcello Musto, geb. 1976, ist Professor für Soziologie an der York Universität Toronto (marcellomusto.org). Er ist Autor der Bücher »Another Marx: Early Manuscripts to the International« (Bloomsbury 2018), »L’ultimo Marx: 1881-1883. Saggio di biografia intellettuale« (Donzelli editore: Roma 2016; die deutsche Ausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Der späte Marx. Eine intellektuelle Biografie der Jahre 1881 bis 1883« im VSA: Verlag). Zu den zuletzt von ihm herausgegebenen Büchern gehören »The Marx Revival: Key Concepts and New Interpretations« (Cambridge University Press 2020) und »Karl Marx’s Writings on Alienation« (Palgrave, 2021). Der hier abgedruckte Beitrag erschien zuerst unter dem Titel »The Paris Commune Is Still a Beacon for Radical Change« am 18.3.2021 auf www.jacobinmag.com/2021/03/pa-ris-commune-radical-change-history-revolution. Übersetzung: Michael Brie.