Die vierte Gewalt – Rezension

Das aktuelle Buch – Rezension

Richard David Precht und Harald Welzer:

Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist

Die Autoren haben mit ihrem Essay einen Nerv getroffen: Die von ihnen kritisierten Medien regen sich mächtig auf, doch die Leser:innen kaufen das Buch und sechs Wochen nach Erscheinen steht es auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste.

Wie alles anfing: der Brief an Kanzler Scholz

Im April 2022 hatten beide Autoren gemeinsam mit Alice Schwarzer und weiteren Medienschaffenden einen offenen Brief an Bundeskanzler Scholz gezeichnet, in dem mit Blick auf das gewaltige Eskalationspotential im Ukrainekonflikt zu Besonnenheit, insbesondere bei Waffenlieferungen, aufgerufen wurde. Zu diesem Zeitpunkt forderten die Medien in Deutschland praktisch unisono massive Waffenlieferungen an die Ukraine, proklamierten einen Krieg bis zum Sieg der Ukraine und setzten die Bundesregierung und Kanzler Scholz damit massiv unter Druck. Der Brief durchbrach den Gleichklang und löste in den Medien allgemein wütende Reaktionen aus. Er wurde als „Aufruf zur Kapitulation“  „Intellektueller Offenbarungseid“, „Sofa-Pazifismus“ oder einfach „Wahnsinn“ bezeichnet, die Unterzeichner als Putin-Versteher, Verräter westlicher Werte und dergleichen mehr diffamiert und auch ganz persönlich angefeindet. Während so die Medien eine geschlossene Front gegen den Brief und für Waffenlieferungen bildeten, waren die Bürger:innen in Deutschland zu Waffenlieferungen ziemlich halbe-halbe gespalten. Zwischenzeitig hat der Brief 470.000 Unterzeichner:innen gefunden und hat mutmaßlich dazu beigetragen, wieder hier und dort ein wenig Raum in den Medien zu schaffen für Nachdenklichkeit angesichts der Gefahr eines 3. Weltkriegs.

Für unsere Autoren war die einhellige Kriegsbegeisterung der Medien an der Seite der Ukraine ebenso wie deren Reaktion auf ihren eher zurückhaltend-abwägenden Brief an Kanzler Scholz eine neue Erfahrung. Ausführlich arbeiten sie sich an den Übertreibungen der deutschen Medien zum Ukraine-Krieg ab. Die Brutalität des russischen Vorgehens ist gewiss schrecklich, ja – aber einmalig? Ein Blick auf die Verbrechen der USA in Vietnam oder im Irak oder auf die noch viel schlimmeren der SS und Wehrmacht nach 1941 in Russland und der Ukraine zeigt ihnen, dass hier absichtsvoll übertrieben wird.

Medien ließen jede kritische Distanz vermissen 

Wie kommt es, dass sich bei einem so wichtigen und gefährlichen Thema die Medien zu keinerlei abwägender Betrachtung fähig erweisen, zu der immer auch die Kontroverse gehört? Werden die Medien ferngesteuert? Von der Regierung? Oder von finsteren Mächten? Doch Lügenpresse? „Wer medial Druck auf den Kanzler ausübt, bestimmt über diesen Weg die Geschehnisse mit. Und die Frage ist: Mit welchem Recht?“ (S.37).

Also haben sich die beiden an die Arbeit gemacht, das Rätsel zu lösen. Gesichtet haben sie die kommunikations- und medienwissenschaftliche Literatur, angefangen bei Standardwerken von Habermas, eine ganze Anzahl von empirischen Studien, dazu Statistik zum Mediengeschäft und das alles ergänzt mit eigenen Beobachtungen. Dabei sind sie u.a. zu folgenden Erkenntnissen vorgestoßen:

  • Ein „zentraler Befund (ist), dass es eine durchaus enge Verflechtung der journalistischen und politischen Eliten mit politischen Lobbyorganisationen gibt“ (S. 106). Dies aber nicht im Sinne direkter Weisungen, sondern eher als informelle Netzwerke, die sich untereinander verständigen und Bälle zuspielen. Innerhalb dieser Netzwerke besteht ein erheblicher Konformitätsdruck, Gruppendenken und Opportunismus („Indexing“). Medien berichten mehr über Politiker als über Politik, sie folgen dem „Helikopterblick“ der Regierenden. So zeigen Studien, daß in der von den Medien so getauften „Flüchtlingskrise“ wenig über den Einsatz von Millionen Menschen berichtet wurde, die den Geflüchteten beistanden, aber viel über die vermeintlichen Gefahren, die von den Geflüchteten ausgingen und die Nöte der Politiker damit.
  • Die rückläufigen Einnahmen der Zeitungsverlage, die Presse-Konzentration, die Verringerung der Zahl der Redaktionen und Journalist:innen und die Bildung eines „journalistischen Prekariats“ verstärken den Konformitätsdruck. Auch für aufwändige Recherchen stehen oft keine Ressourcen zur Verfügung. In dieser Situation stehen die sogenannten Leit- oder Qualitätsmedien im Wettbewerb mit den Sozialen Medien um die Aufmerksamkeit ihrer Kunden. Deshalb werden immer öfter Themen gebracht, die in den sozialen Medien „trenden“, egal ob sie wirklich relevante Informationen enthalten.
  • Der Druck der Klickzahlen fördert einen „Erregungsjournalismus“, der nicht Informationen liefert, sondern Emotionen schürt. „Warum ist die Auseinandersetzung in der Sache der moralischen Anklage von Personen gewichen?“ (S. 220) fragen unsere Autoren. Sie konstatieren einen von den Sozialen Medien ausgehenden „grundlegend anderen Typus von Kommunikation“ (S. 221), der Kommunikation „immer hysterischer“ werden lässt.
  • Anhand zahlreicher Beispiele wird das erläutert, u.a. der medialen Jagd auf den damaligen Bundespräsident Christian Wulff. Der wurde durch den Druck der Medien zum Rücktritt genötigt, später vor Gericht aber in allen Punkten rehabilitiert. Wulffs Karriere war beendet. Die Journalist:innen, die ihn mit unzutreffenden Anschuldigungen zur Strecke gebracht hatten, mussten keine Konsequenzen befürchten. Im Gegenteil, sie hatten ja die Klickzahlen gesteigert. „Was als unabhängiger moralischer Gerichtshof über den Wolken daherkommt, hat mehr mit Kapitalismus und Markt zu tun, als den beteiligten Empörten klar sein dürfte“ (S. 238).

Es wird deutlich: Das Versagen der deutschen Medien angesichts des Ukraine-Kriegs ist nicht vom Himmel gefallen. Es ist nur eine weitere Fehlleistung, bei der Medien ihren eigenen Qualitätsanspruch verraten.

Was ist die Alternative?

Was ist die Alternative? Precht und Welzer empfehlen eine Rückbesinnung auf journalistische Qualitätskriterien, auf eine bescheidener auftretende „4. Gewalt“ und hoffen auch auf neuere, qualitätsorientierte Medienprojekte. Nach allem, was sie zuvor über die Realitäten der Medienwelt geschrieben haben, erscheint das doch etwas als frommer Wunsch. Sei aber verziehen. Wer zur Analyse des Problems etwas beigetragen hat, muss nicht unbedingt die Lösung mitliefern.

Das Buch hat auch Schwächen

Auf Seite 178 zitieren Precht und Welzer einen Satz von Marx und Engels: „Die Gedanken der Herrschenden sind in jeder Epoche herrschende Gedanken.“ Dies sei für die Mitte des 19. Jahrhunderts zutreffend gewesen, doch „für moderne liberale Gesellschaften, und darauf sind sie zu Recht stolz, trifft dies nicht zu.“ Diese mutige Behauptung überrascht. Haben die beiden uns nicht gerade im Detail aufgezeigt, über welche Netzwerke und Markt-Mechanismen die Elitenkommunikation die führenden Journalist:innen einbindet und – ganz indirekt – steuert?

Die oben zitierte „enge Verflechtung der journalistischen und politischen Eliten mit politischen Lobbyorganisationen“ belegen Precht und Welzer vor allem mit einer Studie von Uwe Krüger über den „Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten“. Diese Studie wurde bereits im April 2014 von der „Anstalt“ zitiert. Die thematisierte dabei vor allem die Verflechtung namentlich genannter „Alpha-Journalisten“ mit „NATO-verstehenden“ Instituten wie der Atlantikbrücke. Precht und Welzer berichten von dieser Episode ausführlich, nehmen aber den eigentlichen Hinweis nicht auf: Wenn doch bekannt ist, dass amerikanische Regierungen viele Milliarden zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in anderen Ländern aufwänden und heute die USA die Ukraine mit allen verfügbaren Mitteln außer dem direkten Einsatz eigenen Militärs unterstützen, dann stellt sich doch die Frage: Haben die USA daran gedreht, dass die Medien in Deutschland in diesem Frühjahr und Sommer zur Ukraine nur noch eine Meinung hatten? Und wenn ja, wie? Egal wie die Antwort ausgefallen wäre – die Frage gar nicht zu stellen, ist wohl die größte Schwäche des sonst so engagierten Essays.

Gereizte Reaktionen der kritisierten Medien

Die Reaktion der kritisierten Medien auf das Buch war zunächst gereizt. Vielfach wurde versucht, mit Details und kleinen Fehlern der Autoren, deren Glaubwürdigkeit zu untergraben, ohne sich mit den Thesen des Buches auseinanderzusetzen. So haben die Autoren eine im Buch abgebildete Insta-Story irrtümlich als Tweet bezeichnet. Dann hatte sich Prechter bei Lanz zu der Behauptung hinreißen lassen, “kein einziger” Leitartikel eines prominenten Journalisten hätte sich kritisch mit der Regierungspolitik zur Ukraine befasst. Der anwesende Chefredakteur der “Welt” konnte aber auf gleich vier solcher Artikel in seinem Blatt verweisen. Ausgerechnet die konservative “Welt” hatte – wie auch die noch konservativere Schweizer NZZ –  auch vom Mainstream abweichende Beiträge gebracht. Dumm gelaufen, Herr Prechter. Aber stellt das wirklich die politische Einschätzung in Frage, dass “die Leitmedien sämtliche Maßnahmen, die die Bundesregierung fortan ergriff, einhellig unterstützten und, einen erheblichen Schritt weiter, Bundeskanzler Scholz zu schnelleren und größeren Waffenlieferungen nicht nur aufforderten, sondern mit aller Vierten Gewalt trieben” (S. 155)? Inzwischen scheint sich die Diskussion etwas zu versachlichen und die positiv-interessierte Reaktion des Publikums tut das ihrige dazu.

Das Buch ist eine Intervention und man kann wohl jetzt schon sagen, eine erfolgreiche, denn es hat eine breite Debatte angestoßen. Es ist schnell geschrieben, Wiederholungen bleiben nicht aus, und ein Anspruch auf abschließende Behandlung des Themas wird gar nicht erst erhoben. Wer sich in diesem Jahr gefragt hat, was mit den Medien eigentlich los ist, findet hier viel Material, genaue Beobachtungen und bedenkenswerte Gedanken, um das Problem genauer zu verstehen. Und das ist doch schon eine ganze Menge.

Von Fiete Saß

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